Vielleicht doch ein geordneter Rückzug?

Neue Nachrichten und Fragen über Stuttgart 21

von Jürgen Schutte

Hat da jemand kalte Füsse bekommen oder grämt man sich nur um den guten Ruf? – „Ist das Land reif für mehr Bürgerbeteiligung? Und: Sind es auch die Bürger?“ – Das ist ein Murks sondergleichen. Man kann doch so etwas Monströses nicht von oben verordnen. – Können wir uns den Bahnhof leisten angesichts eines Verkehrsetats, der darin wichtigere Projekte ausschließt?

Eine interessante Meldung finden wir in der Süddeutschen Zeitung vom 13. August, auf Seite 4: „Ein Bauherr, der den Bau nicht will“. In dem Artikel heißt es: „Selbst die Bahn hat keine Lust mehr auf Stuttgart 21. Dieses Projekt wurde ihr vor Jahren von der Politik aufs Auge gedrückt. Jetzt soll sie es aber samt den damit verbundenen Image-Risiken ganz alleine verantworten. Ginge es nach der Bahn, würde vor allem der Gütervekehr ausgebaut: Doch Milliarden für neue Signalanlagen, für Weichen oder Oberleitungen sind der Politik anscheinend zu langweilig“. – Hat da jemand kalte Füsse bekommen oder grämt man sich nur um den guten Ruf?

Artikel: http://www.sueddeutsche.de/politik/stuttgart-vom-bauherren-der-den-bau-nicht-will-1.1130928

Die Schlichtung und den von der Bahn „bestandenen“ Stresstest hatte DIE ZEIT schon am 28.7. als ein großes Demokratieexperiment“ beurteilt und sich den Kopf darüber zerbrochen, „Warum der Streit um Stuttgart 21 zu Ende sein muss“. Die Antwort ist ebenfalls als Frage formuliert: „Ist das Land reif für mehr Bürgerbeteiligung? Und: Sind es auch die Bürger?“ Diese haben nach der Ansicht der Autorin ihre Reife allerdings vor allem dadurch zu beweisen, dass sie die absehbare Niederlage akzeptieren. „Zweifel an der Sache bleiben berechtigt, den Bahnhof muss niemand lieben. Er bleibt ein Prestigebau mit unklarem Nutzwert, bei dem nur sicher scheint, dass es teurer wird als geplant.“ – Wer will schon als „unreif“ erscheinen oder gar als „schlechter Verlierer“ gelten? Da nimmt man doch lieber eine miserable Kosten-Nutzen-Relation in Kauf.

Artikel: http://www.zeit.de/2011/31/01-Stuttgart-21

In der ZEIT vom 11. August berichtet Peter Teuwsen von einem Besuch bei Werner Stohler, dem Geschäftsführer der Schweizer Beratungsfirma SMA, der zusammen mit Heiner Geißler den Kompromißvorschlag SK 2.2 für den Stuttgarter Bahnhof vorgelegt hat:

Sowieso kann der Bauingenieur, zu dessen liebsten Wörtern „Fakten“ zäh1t, die deutsche Art, Großprojekte zu planen, gar nicht nachvollziehen: Das ist ein Murks sondergleichen. Man kann doch so etwas Monströses nicht von oben verordnen. Wenn Deutschland etwas aus Stuttgart 21 lernen könne, dann, dass es so nicht mehr weitergehen kann: Die Verfahren sind viel zu kompliziert. Man läuft Gefahr, das Eigentliche aus den Augen zu verlieren. Ein Beispiel sei Frankreich, wo mit der „debát public“ ein ausgeklügeltes Verfahren für staatliche Großprojekte Standard sei. Von Anfang an werden alle Betroffenen in den Prozess miteinbezogen. Und am Ende ist das Vorhaben legitimiert.

Artikel: online nicht verfügbar

Die Frage, wer sich in dieser Sache mit welchem Recht engagiert, beantwortet der Bayreuther Soziologe Oliver Lepsius in einem Interview für den Berliner Tagesspiegel am 13. August. Er fügt einige Überlegungen an, die viellleicht noch nicht ganz ausgereizt sind undd aher in die Debatte eingeführt werden könnten. Im Interview heißt es:

Wo stehen die neuen engagierten Bürger, die […] Bahnhöfe verhindern wollen?

Dieses Engagement ist notgedrungen eine Konsequenz aus der Kapitulation vor den wirklich komplexen politischen Fragen – wie Klimawandel, Weltfinanzkrise, globaler Ressourcenschwund. Die Bürger denken heute stärker projektbezogen. Eine Schulreform, ein Bahnhof, das kann man begreifen, das sind begrenzte Ja-Nein-Konflikte. Es gibt keine internationalen Vernetzungen. Aber Poltik ist mehr als ein einzelnes Projekt. Und bei Politik fallen wir oft in ein inhaltliches Loch.

[…] wo ist das Loch?

In der genuin politischen Zone von Abwägungs- und Verteilungskonflikten. Stuttgart 21 etwa wurde als Projekt behandelt, aber es wurde vergessen, das Projekt zur politischen Frage zu machen, indem man die richtigen Fragen stellt.

Wie hätte man fragen müssen?

Können wir uns den Bahnhof leisten angesichts eines Verkehrsetats, der darin wichtigere Projekte ausschließt? Warum Stuttgart-Ulm, wenn Gütertrassen im Rheintal, im Containerverkehr zu den Nordseehäfen oder im Alpentransit dringlicher wären? Dort liegen die wirldich wichtigen Aufgaben, aber die können nicht bezahlt werden, weil Stuttgart wie ein Staubsauger das Geld an sich zieht.

Trotzdem starren alle nur auf Stuttgart.

Ja, weil Nutzen und Legitimation fraglich sind. Dieses Projekt verknüpft zwei Vorhaben zu einem Paket: Bahnhof und Schnellbahn. Dadurch kann Stuttgart 21 weder als Einzelvorhaben noch als gesamtgesellschaftliches Anliegen sinnvoll diskutiert werden. Das ist im Sinn der Akteure: Die Bahn möchte ihre Liegenschaften versilbern, Stuttgart ein neues VierteI und mehr Park gewinnen, das Land will Ulm anbinden, der Bund den Flugverkehr auf die Schiene bringen, und Europa will Paris mit Bratislava schneller verbinden. Also wird ein Megaprojekt entwickelt, das diese Interessen verknüpft, Zuständigkeiten überschreitet und auf einer Mischfinanzierung beruht. Am Ende ist keine Verantwortlichkeit für das Gesamtvorhaben erkennbar.

Ist das mit Tricks à la Geißler – Kopf- plus Tiefbahnhof – noch zu retten?

Man kann Stuttgart 21 nicht aufschnüren, um diese Verantwortlichkeit herzustellen, weil es dann zerbräche. Das Gesamtprojekt kann so nicht legitimiert werden. Der Stuttgarter Stadtrat entscheidet nicht über die Schnellbahn nach Ulm, der Bundestag beim Verkehrsetat nicht über die Stadtplanung in Stuttgart. Und beide wollen an die Zuschüsse aus Brüssel, die es nur gibt, wenn man den Bahnhof als Flaschenhals in transeuropäische Netze einbaut. Außerdem war die Bahn sehr geschickt, ihre Gewinn- und Wettbewerbsinteressen verschiedenen Gemeinwohlträgern schmackhaft zu machen, die über den Sinn des Ganzen aber nicht entscheiden. All das ahnen die Bürger, und es empört sie

Dennoch gibt es eine Rechtsgrundlage. Kann man nun einfach daherkommen als Bürger und sagen, das wollen wir aber jetzt nicht mehr?

Spannende Frage. Die Bahn sagt, wir haben einen Rechtstitel, wir dürfen bauen. Andere sagen, der Rechtsstaat muss sich grundsätzlich durchsetzen und darf nicht weichen vor den Protestlern. Das erste Problem freilich ist: Genügt hier das Planungsrecht, um das Projekt angesichts seiner gesellschaftlichen Auswirkungen zu legitimieren? Das zweite Problem: Inwieweit sind wir heute an Entscheidungen gebunden, die vor vielen Jahren unter ganz anderen Bedingungen und Mehrheiten getroffen wurden? Wer jetzt bloß auf ein Baurecht pocht, argumentiert undemokratisch, denn die Demokratie bezieht ihre Legitimation auch aus der Veränderbarkeit von Beschlüssen, zumal wenn sich die Bedingungen ändern. Die Verfassungsordnung erklärt nicht den Rechtsstaat zum Maßstab der Demokratie, sondern zu ihrem Mittel. Wer veränderten Mehrheiten und Präferenzen keine Durchsetzungschance eröffnet, entwertet die Demokratie.

Artikel: http://www.tagesspiegel.de/politik/niemand-traut-sich-an-heikle-zukunftsfragen/4493604.html

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