Der Kampf gegen die Privatisierung der Autobahnen ist ein Kampf um die Demokratie

Jürgen Schutte ist am 19. Oktober gestorben. Er war einer der GründerInnen von Gemeingut in BürgerInnenhand, aktives Mitglied und Impulsgeber unseres Vereins. Im Februar 2018 erschien in dem von uns herausgegebenen Lunapark21-Extraheft zur Privatisierung das nachfolgende Interview mit Jürgen Schutte:

Titelseite Lunapark21 extra Nummer 16/17

Der Kampf gegen die Privatisierung der Autobahnen ist ein Kampf um die Demokratie

Gewalttätig nennt man den Strom, der über die Ufer tritt,
die Ufer, die den Fluss einfassen, nennt niemand gewalttätig.
Bertolt Brecht

Der Deutsche Bundestag hat am 1. Juni 2017 die Errichtung einer Infrastrukturgesellschaft für den Neubau, die Erhaltung und den Betrieb der Autobahnen und zugleich die dafür erforderlichen Änderungen des Grundgesetzes beschlossen. Diese „zentrale Autobahngesellschaft“ beinhaltet im Wesentlichen, dass die Autobahnen im Rahmen von Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP) privatisiert werden können.

Die Gesetzesänderungen waren – politisch geschickt und erpresserisch – mit Neuregelungen des Länderfinanzausgleichs verknüpft. Die federführenden Minister waren: Sigmar Gabriel (SPD, Wirtschaft), Alexander Dobrindt (CSU, Verkehr) und Wolfgang Schäuble (CDU, Finanzen).

Im folgenden Interview mit Jürgen Schutte geht es um die Hintergründe und Folgen der Beschlüsse. Erörtert wird, warum die Antiprivatisierungs-Netzwerke von einer Gefährdung der Demokratie sprechen.

Wie bewerten Sie die Privatisierungspolitik der Großen Koalition im vorigen Bundestag?

Die Art und Weise, wie das Verfahren durchgesetzt worden ist, war für sich genommen schon ein Schurkenstück. Hartnäckig, skrupellos und doppelzüngig haben die drei federführenden Minister ihr Vorhaben durchgepaukt. In der Endphase – es war eine der letzten Sitzungen der Legislaturperiode – gelang es der Bundesregierung sogar, die Atmosphäre eines Ausnahmezustands zu schaffen. Begründungen und Unterlagen, ins-gesamt fast eintausend Seiten, waren den Abgeordneten drei Tage vor der Beschlussfassung zugegangen. Debatte und Änderungen waren de facto nicht möglich. Die Mitglieder des Hohen Hauses präsentierten sich als Stimmvieh. Am Tag darauf ließen sich auch die Angehörigen des Bundesrates am Nasenring durch die Manege führen, als sie das Paket im Eilverfahren einstimmig abnickten. Die Länder hatten sich ihre Zustimmung schon bei den Verhandlungen zum Länderfinanzausgleich abpressen lassen. Die Ausschaltung der Legislative bei einer derart richtungsweisenden Entscheidung kann man als Stellprobe für einen Staatsstreich interpretieren.

Um was geht es bei dem Autobahnprojekt?

Die großen Netze, von deren Existenz und Effizienz die Produktivität und die Entwicklung der Wirtschaft und letztlich auch Wohlstand und Sicherheit abhängen, sind Post und Bahn, Energie, Mobilfunk sowie Autobahnen und Bundesstraßen. Nun wird mit den Autobahnen ein weiterer profitabler Bereich privaten Interessen ausgeliefert. Durch Privatisierung werden entscheidende Segmente der materiellen Infrastruktur der gesellschaftlichen Verfügung und der demokratischen Kontrolle entzogen. Mühsam erreichte Optionen auf eine integrierte, nachhaltige Verkehrspolitik – etwa der Grundsatz „Schiene vor Straße“ – werden zu Makulatur. Der Einfluss der Städte und Kommunen auf die Entwicklung des Fernverkehrs wird auf null reduziert.

Die Betreiber behaupten, die Infrastrukturgesellschaft würde effizienter arbeiten, und die Beteiligung privater Investoren entlaste den Bund finanziell. Ist das so?

Die Befürworter behaupten viel und verschweigen oder vernebeln noch mehr. ÖPP sei effizienter und billiger als konventionelle Beschaffungsverfahren. ÖPP etabliere eine Win-win-Situation.

Jede kritische Auseinandersetzung mit dieser Politik bekommt es zuerst mit dem Sachverhalt zu tun, dass es eine vertrauenswürdige und belastbare Datenlage gar nicht gibt. Das ist für sich genommen schon ein Skandal.

„Effizienter“ ist eine nicht belegte Behauptung.

„Billiger“ stimmt auch nicht: Zahlreiche Prüfberichte der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder sowie wissenschaftliche Analysen belegen, dass es bei einem erheblichen Anteil der bisherigen Projekte zu zusätzlichen Kosten für die Steuerzahlenden kommt. Besonders bei der Insolvenz einer Projektgesellschaft liegt das gesamte Risiko auf den Schultern der Kommunen.

Von einer „Win-win-Situation“ kann keine Rede sein: Die offiziellen Projektbeschreibungen loben zwar die partnerschaftliche Zusammenarbeit, fragt man aber nach dem jeweiligen Nutzen, so ist die gesamte Konstruktion der Projekte auf den Gewinn der privaten Investoren angelegt. Daher spricht man bei den „Partnern“ besser von Räubern und Beraubten.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat den ganzen Vorgang – Grundgesetzänderungen in Verknüpfung mit der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs – als „ein neues Geschäftsmodell für die Privatisierung der Daseinsvorsorge und damit für den schleichenden Umbau des Sozialstaates“ [1] charakterisiert. Trifft das zu?

Die entscheidenden Wörter in der DGB-Stellungnahme sind: „Geschäftsmodell“ und „Sozialstaat“. Das Geschäftsmodell der neoliberalen Politik ist die Unterordnung der Gesellschaft unter den Markt, was auch heißt: der Politik unter die Ökonomie. Eine Verwirklichung der „marktgerechten Demokratie“ behandelt den Staat, der Eigentümer der Gemeingüter ist, als Unternehmen und entwickelt ihn nach betriebswirtschaftlichen Regeln. Nach Meinung ihrer Vertreter sei die flächendeckende Privatisierung von Gemeingütern, in unserem Falle der Autobahnen, Voraussetzung für Wachstum, Krisensicherheit und Effizienz.

Menschenwürde, Wohlstand und Sicherheit lassen sich aber nur durch die Gestaltung und Organisation eines „Sozialstaats“ erreichen, wie immer der im Einzelnen organisiert ist. Frühere Generationen haben bewusst bestimmte Lebensbereiche dem Markt und der Konkurrenz entzogen. Auch kapitalistische Staaten hatten erkannt, dass etwa Wasser, öffentlicher Verkehr, Entsorgung, Gesundheit, Bildung solche Bereiche sind, deren Gestaltung und Kontrolle nicht Profitinteressen ausgeliefert werden dürfen. Heute scheint diese Einsicht abhanden gekommen zu sein.

Mein Ziel ist, diese Zusammenhänge wieder ins Bewusstsein zu heben, zu stärken, um mit der Kraft der Vielen die Privatisierungspolitik zu stoppen und umzukehren.

Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Privatisierungspolitik und der Gefährdung des Sozialstaates?

Die Gemeingüter – besonders die der Daseinsvorsorge – erfüllen wichtige Funktionen für die Individuen und die Gesellschaft. Eine solidarische Krankenversicherung, eine ausreichende Absicherung bei Arbeitslosigkeit und ein auskömmliches Einkommen im Alter sind nicht nur ein materieller Besitzstand. Sie bedeuten für das Individuum eine gewisse Freiheit von Angst, unter anderem eine notwendige Voraussetzung von gesellschaftlichem Engagement.

Für die Gesellschaft bilden sie eine unabdingbare Voraussetzung für den zivilisierten Umgang miteinander, für Solidarität und politische Kultur, und sie garantieren die Handlungsfähigkeit der Politik.

Was ist eigentlich eine Öffentlich-Private Partnerschaft (ÖPP)?

Mit dem ÖPP-Vertrag wird das jeweilige Objekt – die Wasserversorgung einer Kommune, Teile der Stadt- und Bürgerverwaltung, Kliniken, Schwimmbäder, Schulen – für 20 bis 30 Jahre der Verfügung einer privat organisierten Projektgesellschaft unterworfen. Die Projektgesellschaften arbeiten mit privaten Finanzmitteln. Am Beispiel einer Schule: Die marode Schule wird der Projektgesellschaft überlassen und von ihr modernisiert. Die modernisierte Schule wird dann an die Kommune vermietet. Die Mietforderungen werden zu einem handelbaren Produkt auf dem Finanzmarkt. Alle nun anstehenden Fragen der Betriebskosten, der Raumnutzung, der Personalausstattung et cetera werden den Renditezusagen und -anforderungen unterworfen. Die Kommune hat darauf keinen Einfluss und schon gar keinen Gestaltungsspielraum, um etwa auf veränderte Anforderungen an die Nutzung der Schule zu reagieren. Die Kommune hat dann auch keine Fachleute mehr, die sich mit den Fachleuten der Projektgesellschaften qualifiziert auseinandersetzen könnten.

Und warum ist ÖPP so gefährlich?

ÖPP ist gefährlich, weil es um eine Privatisierung geht, dies aber verschwiegen wird.

Jede Privatisierung von Gemeingut ist eine Enteignung der Bevölkerung, eine Unfähigkeitserklärung der Politik und eine Beschädigung der Demokratie.

Privatisierung ist langfristig: Die Vorstellung, nach dreißig Jahren sei alles wie vorher, ist eine Illusion.

Privatisierung ist systemverändernd: Demokratische Gestaltung und Kontrolle werden abgebaut.

Privatisierung ist unauffällig: Es scheint, als sei alles beim Alten.

Privatisierung ist grundsätzlich: Diese Dimension ergibt sich aus der ökonomischen Logik: Bei der Beschreibung von ÖPP müssen wir vom immanenten Widerspruch des Warentausches ausgehen. Der Verkäufer (Investor) ist an der Verwertung seines Kapitals interessiert, während der Käufer (öffentliche Hand) die Erfüllung eines Bedarfs im Auge haben muss. Die bereits erwähnte marode Schule hat für den Baukonzern nur einen Tauschwert. Der Konzern würde ebenso die Renovierung eines Rathauses oder den Neubau eines Autobahnabschnitts übernehmen, wenn bei diesen Geschäften ein Profit zu erwarten ist. Den Bedarf dagegen kann man mit einer Forderung der Eltern beschreiben: „Wir brauchen eine Schule, in der unsere Kinder sicher aufgehoben sind und das Lernen Spaß macht.“

Was sind die Gründe für die Akzeptanz von ÖPP?

ÖPP ist auch eine sehr schlaue Form der Privatisierung. ÖPP lässt sich den unterfinanzierten Kommunen als Ausweg aus dem Investitionsstau schmackhaft machen. Gleichheit der Partner wird suggeriert. Schlau ist auch, dass die Entlastung der Kommunen durch ÖPP als Belastung in die Zukunft verschoben wird. Mietzahlungen werden dann über Kredite finanziert, stehen in Schattenhaushalten und tauchen in öffentlich zu beratenden Haushaltsplänen nicht mehr auf.

Die Befürworter von ÖPP betonen unablässig, das „alternative Beschaffungsmodell“ sei keine Privatisierung. Das Objekt bleibe im Eigentum des Staates. Was ist von dieser Argumentation zu halten?

Das ist eine Feststellung, für die sich die Bürgerinnen und Bürger nichts kaufen können. Wir müssen uns klarmachen, dass es sich bei ÖPP um eine vollkommen absurde Konstruktion handelt: Der Eigentümer gibt seine Verfügungsgewalt über das Objekt für lange Jahre an einen Besitzer ab und muss nun für eine Nutzung seines Eigentums an diesen Besitzer Miete zahlen.

Was also hat der Staat von seinem angeblichen Eigentum, wenn dieses Eigentum in Wirklichkeit vom Besitzer als Profitquelle (Rendite!) genutzt wird?

Sollte die Privatisierung der Autobahnen nach einer Intervention der SPD nicht eindeutig ausgeschlossen werden?

Der Öffentlichkeit wurde kurz vor der Abstimmung im Bundestag das Schauspiel einer beherzten Intervention geboten. Der Parteivorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel machte sich stark: „Wir konnten durchsetzen, dass die Privatisierung von Bundesstraßen und Autobahnen ausgeschlossen wird.“ Die von der SPD kurzfristig eingebrachten Änderungen im Gesetzesvorhaben modifizierten den Weg zur Privatisierung, aber sie versperrten ihn nicht. Der erste Schritt ist eine formelle Privatisierung, denn die Infrastrukturgesellschaft soll die Rechtsform einer GmbH haben. Deren Management kann frei agieren, zum Beispiel ÖPP-Verträge abschließen oder Kredite aufnehmen.

Wie werden Sie und das Anti-Privatisierungsnetzwerk Gemeingut in BürgerInnenhand weiterkämpfen?

Durch Aufklärung über die Ziele, die Methoden und die voraussehbaren Folgen der Privatisierungspolitik wollen wir die öffentliche Meinung gegen diese neoliberale Bedrohung der Demokratie mobilisieren. Wir bemühen uns um eine realistische Einschätzung der Situation. Aus Umfragen wissen wir, dass circa 80 Prozent der Bevölkerung Privatisierungen ablehnen. Wir wissen aber auch, dass das stärkste Argument für die Privatisierung der vielfach erbärmliche Zustand des öffentlichen Dienstes ist.

Der Kampf gegen die Privatisierung ist zugleich ein Kampf um die Verbesserung und Demokratisierung der öffentlichen Institutionen.

Jürgen Schutte (1938 – 2018) war Professor für Neuere deutsche Literatur und lehrte bis 2003 an der Freien Universität Berlin. Er war im privatisierungskritischen Netzwerk Gemeingut in BürgerInnenhand aktiv und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von attac.

Die Fragen stellten Gerlinde Schermer, Ulrike Kölver und Katrin Kusche.

Anmerkungen:

[1] DGB: „DGB warnt vor Privatisierung von Straßen und Daseinsvorsorge“, Pressemitteilung vom 9. Februar 2017, www.dgb.de/presse/++co++50dc3fe0-eeb3-11e6-a6d8-525400e5a74a, zuletzt geprüft 17. Oktober 2017

[2] www.zeit.de/2016/44/spd-sigmar-gabriel-autobahnprivatisierung

Quelle: Lunpark21 extra Nr. 16/17, Winter 2017/18. Das Heft kann kostenlos bei Gemeingut in BürgerInnenhand bestellt werden. Wir freuen uns über eine Spende.

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