Auswege aus der Zerstörung der Infrastrukturen

Öffentliche Armut und privater Luxus: Wie die Regierungen das Gemeinwohl schleifen

Der Staat lässt in Deutschland die Infrastrukturen verfallen. Der Umfang des Verfalls dringt erst langsam ins öffentliche Bewusstsein, tatsächlich ist aber der Schaden bereits immens. Durch diese Substanzvernichtung schrumpft das öffentliche Vermögen. Private Vermögen hingegen wachsen immer weiter, auch aufgrund von Privatisierungen der Daseinsvorsorge. Abhilfe schaffen
kann die Vermögensteuer.

Seit 25 Jahren investieren Bund und Länder weniger, als gleichzeitig durch natürliche Alterung verloren geht. Betroffen sind Schulen, die Bahn, Krankenhäuser, Straßen, Wasserleitungen, Rathäuser, Strommasten, Fernsehtürme – fast jegliche technische Anlage der Daseinsvorsorge wird seit Jahren im Durchschnitt schlechter. Eisenbahnbrücken und Strommaste verrosten. Bahnschienen bekommen Scharten und bilden unter Materialermüdung Risse aus, die sukzessive zum Bruch führen können. Betongebäude und Betonbrücken carbonatisieren, Abplatzungen entblößen ihre Bewehrungseisen. Dächer, Keller und Wasserleitungen von Schulen werden mit der Zeit undicht, Wasser dringt in die Mauern ein, Schimmel macht die Räume unbrauchbar. Wasser- und Abwasserleitungen setzen sich zu und verstopfen. Von unterirdisch verlegten Leitungen werden einige durch den zunehmenden Straßen­verkehr mürbe und bersten. Asphaltbeläge bilden durch die Radlasten aus dem Schwerlastverkehr Spurrinnen. Risse in der Fahr­bahndeckung frieren im Winter auf und führen zu Schlaglöchern.Auch innerhalb öffentlicher Gebäude sieht es schlecht aus. Hier ist es der kurzlebigere Ausbau, der verfällt. Fenster und Sanitäranlagen müssen weit öfter saniert oder ausgetauscht werden als Bestandteile des Tragwerks, in vielen Schulen sind die Fenster kaputt, manche stürzen in den Schulhof, Klos stinken derartig, dass gemäß einer aktuellen Umfrage zahlreiche Kinder nur noch zu Hause auf die Toilette gehen. In techniklastigen Einrichtungen sind es die Anlagen zur Versorgung mit Strom, Gas und Wärme, die einer Erneuerung bedürfen. Auch die Technik zur Gebäudeheizung, Lüftung und Entlüftung, Steuerungstechnik, Sprinkleranlagen, Fahrstühle und Kommunikationstechnik haben eine durchschnittliche Nutzungsdauer unter 20 Jahren. Je komplexer die Anlagen, desto kürzer die Nutzungsdauer, IT-Technik muss in der Regel nach fünf Jahren ausgetauscht werden. Universitäten, die auch Labore anbieten, und Krankenhäuser mit ihren Operationssälen geraten besonders schnell in einen Investitionsstau. Selbst wenn technische Anlagen noch gut funktionieren, veralten sie, wenn sich die zugehörigen Standards ändern. Während die digitalen Endgeräte immer leistungsfähiger werden und immer mehr Datenmengen verlangen, wurde die Übertragungsgeschwindigkeit der Datennetze nur wenig erweitert, zudem ist die Versorgung regional unterschiedlich – vor allem ländliche Gebiete fallen immer weiter zurück.Es gibt auch unterlassene Investitionen beim Hochwasser- und Katastrophenschutz. Solche Einsparungen sind bei Normalwetter nicht erkennbar. Aber das Wetter ist nicht immer gut. Im Sommer 1997 kam es zu einer Jahrhundertflut an den Flussläufen der Oder in Tschechien, Polen und Deutschland, 74 Menschen starben, die Sachschäden lagen bei vier Milliarden Euro. In den folgenden Jahren wurden Deichlinie, Deichprofil und Deichhöhe verändert. Die tagelangen extremen Regenfälle im Jahr 2002 riefen an der Elbe eine Flutkatastrophe in Tschechien, Österreich und Deutschland hervor. Es zeigte sich, dass die Instandhaltung von Deichen vernachlässigt und zu wenige Überschwemmungsgebiete ausgewiesen worden waren. 45 Menschen verloren ihr Leben, die Schäden betrugen 15 Milliarden Euro. Später wurde das Unwetter als Jahrhundertereignis bezeichnet. Bereits 2006 gab es ein erneutes Elbhochwasser, bei dem teilweise die Höchststände von 2002 überschritten wurden. Die Wetterlage, die 2013 in ganz Mitteleuropa Hochwasser hervorrief, wurde ebenfalls als hundertjährliches Extremereignis eingestuft, 31 Menschen starben, der Sachschaden betrug neun Milliarden Euro. Im Juli 2021 kam es in mehreren Regionen Deutschlands zu schweren Niederschlägen. Dieses Mal starben infolge von Überschwemmungen 180 Menschen, besonders betroffen war das Ahrtal. Flächenversiegelung, Entwaldung, ausgetrocknete Böden sowie fehlende oder falsch dimensionierte Hochwasserschutzmaßnahmen hatten dort die Situation verschärft, dazu kamen Fehler im Vorwarnsystem. Regenfälle Im Dezember 2023 lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit auf marode, aufgeweichte Deiche. Exemplarisch zeigte sich der Sanierungsstau in Nordrhein-Westfalen: Von Anlagen mit einer Länge von rund 530 Kilometern soll dort mindestens bei der Hälfte Handlungsbedarf bestehen. Das Bundesland hat 44 Projekte als notwendig identifiziert, aber nur sechs begonnen.1

Beim Hochwasserschutz treffen Fragen von Infrastrukturerhalt und Klimaschutz aufeinander. Warme Luft speichert mehr Wasser, und größere Hitze führt zu mehr Verdunstung. Mit dem Anstieg der Durchschnitts­temperatur häufen sich damit Starkregenereignisse. Die Herausforderungen des Klimawandels verlangen daher nach einem Umbau der Infrastrukturen. Ein Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ist unumgänglich, für Energie aus Wind und Sonne fehlen allerdings Speicherkapazitäten, so dass die derzeit installierte Leistung nur zum kleineren Teil genutzt werden kann. Es fehlen auch Trassen in den Hochspannungsnetzen, mit denen die Windernte aus der Nordsee zu den Verbrauchern im Süden transportiert werden kann. Und für die zahlreichen Solar-Dachanlagen mit Kleinspeichern bräuchte es dezentrale Verteilnetze. Auch eine klimaschonende Mobilität erfordert erhebliche Investitionen: Wenn die Menschen nach und nach auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen, werden viele tausend Kilometer neue Bahn- und Straßenbahnkilometer benötigt, hunderte zusätzliche Wagen, Dutzende Werkstätten und Abstellanlagen. Und gleichzeitig entfällt die Notwendigkeit für hunderttausend Straßenkilometer und Dutzende Flughäfen, die rückgebaut werden müssen. Selbst das deutsche Abwassersystem kann vermutlich nicht einfach so bleiben wie es vor 150 Jahren konzipiert wurde: Trinkwasser wird zu kostbar, um damit dauerhaft Urin und Fäkalien wegzuspülen. Und Urin und Fäkalien sind mit ihren hohen Anteilen an Phosphor und Stickstoff wiederum zu wertvoll, um als Klärschlamm verbrannt zu werden. Während besonders in den Städten Menschen wie Vegetation unter den immer trockeneren Hitzesommern leiden, wird dort das wertvolle Regenwasser meist noch über schadstoffbelastete Dächer und Straßen abgeleitet und vergiftet mehrmals im Jahr bei Starkregen unsere Flüsse.

Der Verfall der Infrastrukturen in Deutschland wird seit Jahren angeprangert. Eine bereits 2014 eingesetzte Regierungskommission zur „Stärkung von Investitionen in Deutschland“ kam in ihrem Abschlussbericht zum Schluss:

Eine zentrale Schwäche in Deutschland ist die fehlende Erhaltung der öffentlichen Infrastruktur in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Da insbesondere Städte und Gemeinden mit geringer Wirtschaftskraft ihre Investitionsbudgets in den vergangenen Jahren erheblich reduziert haben, zeichnet sich gerade auf kommunaler Ebene ein zunehmender Investitionsbedarf, etwa in den Bereichen Verkehr, Bildung und soziale Infrastruktur, ab.“ 2

Ist also das ehemals reiche Deutschland inzwischen in vitalen Bereichen kaputt? Oder handelt es sich um ein Jammern auf hohem Niveau? Tatsächlich ist es nicht ganz einfach, den Wert von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge zu ermitteln. Deiche werden nicht am Markt gehandelt und werden dadurch nicht „bepreist“, und es gibt keine systematischen, regelmäßigen Schätzungen ihres Werts. Und was ist der Wert von einem Kilometer Straße, die gesetzlich dem Straßenverkehr gewidmet ist? Man kann immerhin Erhaltungsmaßnahmen über die dafür getätigten Ausgaben erfassen. Auch lassen sich die Kosten erfassen, die der Bau von öffentlichen Anlagen verursacht hat. Allerdings lässt sich damit noch nicht aussagen, welcher Mehrwert tatsächlich entstanden ist. Öffentlicher Bau neigt immer wieder zu eklatanten Kostensteigerungen. Die Elbphilharmonie in Hamburg hat das Zehnfache der ursprünglich eingeplanten Gelder beansprucht, der Berliner Flughafen BER das Siebenfache. Die Öffentlichkeit erhielt aber nicht sieben- oder zehnmal mehr an Infrastrukturvermögen. Das Projekt Stuttgart21 wird unter anderem deswegen kritisiert, weil dabei die Kapazität des Schienenknotens Stuttgart reduziert wird. Falls der Bahnhof jemals fertiggestellt wird, werden die Kosten nach den letzten Schätzungen 11,5 Milliarden Euro betragen haben, statt eines Mehrwerts hätte man jedoch einen Schaden zu verbuchen. Ein anderes Erfassungsproblem stellen Anlagen dar, für die sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Höchstspannungsnetze, die von 2023 stillgelegten Atomkraftwerken wegführen, mögen noch intakt sein, ihre Nutzbarkeit für öffentliche Zwecke ist jedoch stark reduziert. Dazu kommt, dass die in den meisten öffentlichen Haushalten übliche kameralistische Buchführung auf Zahlungsströme fokussiert und weniger auf Vermögenswerte.

Es gibt dennoch einige Zahlen aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Deutschlands, die Hinweise geben, wie sich Zustand und Wert der Daseinsvorsorge entwickeln. So waren die vom Statistischen Bundesamt erfassten öffentlichen Nettoinvestitionen seit 2001 in den meisten Jahren negativ, was bedeutet, dass in diesen Jahren so wenig investiert wurde, dass damit der Wertverfall von Straßen, Brücken und Schulgebäuden nicht mehr ausgeglichen werden konnte. In den letzten Jahren wurde zwar wieder etwas mehr investiert, aber nicht genug. Auch die anderen Länder Europas investieren im internationalen Vergleich wenig. Dennoch blieben die Investitionen in Deutschland im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) ein Viertel unter dem Durchschnitt der 27 EU-Länder (2009 bis 2020: durchschnittlich 73 Prozent). Deutschlandweit beträgt der Investitionsstau in der Daseinsvorsorge vermutlich 1,4 Billionen Euro. Dazu kommen die Um- und Ausbau­anforderungen: Marcel Fratzscher, Leiter der oben genannten Regierungskommission und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), bezifferte gegenüber dem ARD-Morgenmagazin die Kosten für Klimaschutz und Digitalisierung in den nächsten zehn Jahren auf 500 Milliarden Euro.3 Um bis 2045 klimaneutral zu werden, gehen andere Schätzungen davon aus, dass insgesamt eine Billion Euro zusätzlich in grüne Technologien und Infrastruktur investiert werden. Um den gesamten Investitionsstau innerhalb von 20 Jahren aufzulösen, werden somit 120 Milliarden Euro pro Jahr benötigt – zusätzlich zu den Geldern, die weiterhin jährlich aufgewendet werden müssen, um die bereits bestehenden Anlagen und Infrastrukturen nutzungsfähig zu halten.

Versäumte Investitionen können jedoch die Zerstörung der Infrastrukturen in Deutschland allein nicht erklären. Das öffentliche Vermögen, also alle Werte abzüglich der öffentlichen Schulden, sank nach den Angaben des Weltungleichheitsberichts 2022 in Deutschland in Bezug auf das jährliche Nationaleinkommen von 28 Prozent im Jahr 1980 auf vier Prozent im Jahr 2020. Ähnliche Entwicklungen gab es in Frankreich, Spanien, Großbritannien, Japan und in den USA.

In den vergangenen 40 Jahren sind die Volkswirtschaften deutlich reicher geworden, Regierungen aber deutlich ärmer. Der Vermögensanteil öffentlicher Institutionen ist in reichen Ländern nahe null oder negativ. Das bedeutet, dass sich das gesamte Vermögen in privater Hand befindet. Dieser Trend wurde durch die Covid-Krise verstärkt.“ 4

Als Ursache von Vermögensungleichheit identifizierte das Team aus international tätigen Wissenschaftlern um den französischen Ökonomen Thomas Piketty bereits 2018 den Trend zu Privatisierungen in den betrachteten Ländern:

Die zunehmende Einkommensungleichheit und die groß angelegte Umwandlung von öffentlichem Vermögen in privates Vermögen in den letzten 40 Jahren haben zu steigender Vermögensungleichheit zwischen Individuen geführt.“ 5

Tatsächlich gab es in Deutschland umfangreiche Privatisierungen. Es wurden Infrastrukturen verkauft oder langjährig per Konzession an Private abgegeben. Gleichzeitig zog sich der Staat vielfach aus dem Betrieb der Infrastrukturen teilweise oder vollständig zurück. Die Verkaufserlöse lagen unter den Kosten, die die Errichtung der Infrastrukturen verursacht hatten. Die Konzessionserlöse deckten die Sanierungskosten nach Rückübergabe an die öffentliche Hand nicht.

Ohne ausreichende Erhaltungsmaßnahmen ist es nur eine Frage der Zeit ist, bis kleinere Schäden zu großen Schäden führen, bis Teilnetze ausfallen oder sogar Netze vollständig kollabieren. Der Schaden trifft zuerst die Nutzer, die dann zum Beispiel nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus kommen, deren Haus nach einem Deichbruch unbewohnbar wird oder die auf andere Art unter einem Infrastrukturkollaps leiden.

Auch für die Volkswirtschaft insgesamt wird es teuer: Große Schäden zu beheben kostet deutlich mehr als regelmäßige Instandhaltung, weil unweigerlich mehr zerstört wird, als durch Alterung unvermeidbar wäre. Man begibt sich auch in die Hände weniger Großfirmen. Regelmäßige Instandhaltung wird von vielen mittelständischen Firmen angeboten, für Großsanierungen stehen in Europa nur fünf Firmen zur Verfügung, die bei eingeschränktem Wettbewerb die Preise weitgehend diktieren können.

Vorsatz oder Dummheit? Interessen hinter dem Niedergang der Daseinsvorsorge

Der Staat lässt in Deutschland die Infrastrukturen verfallen. Ist das einfach nur dumm? Tatsächlich dient dieses Vorgehen bestimmten Interessen. Kontinuierlicher Erhalt ist für Finanzmärkte und Bauindustrie weitgehend uninteressant, Privatisierungen und Totalsanierungen sind hingegen attraktiv. Die Vermögensteuer bietet einen Ausweg aus dem Teufelskreislauf.

Wirtschaftsförderung war und ist Ziel mindestens der letzten fünf Bundesregierungen gewesen, trotzdem haben sie alle auf ein wirksames Instrument verzichtet: auf öffentliche Investitionen. Sie regen die Wirtschaft zu weiterer Tätigkeit an. Jede in die öffentliche Infrastruktur investierte Milliarde generiert weitere 1,5 Milliarden an privater Wertschöpfung, im Bereich Umwelt und Bildung sogar 2,1 Milliarden Euro.

Bleiben die öffentlichen Investitionen aus, entfallen auch die privaten Folgeinvestitionen.6 Das Brettspiel „Monopoly“ ist zwar kein hinreichendes Abbild unserer Gesellschaft. Aber immerhin ist dort der Mechanismus zwischen Investition und Ertrag eingebettet. Wer möchte, kann einmal ein paar Runden Monopoly spielen, ohne zu investieren. Man wird feststellen, dass die Ausgaben die Einnahmen bald übersteigen – solange, bis man pleite ist. Wie ein solcherart nicht-investierender Spieler handeln seit 25 Jahren die Regierungen in Deutschland, von Rot-Grün über Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot bis hin zu Rot-Grün-Gelb. Nur sind nicht Spiel-Bahnhöfe der Einsatz, sondern unter anderem das echte Bahnsystem Deutschlands.

Durch Investitionszurückhaltung und durch eine substanzzehrende Politik konterkarieren die verantwortlichen Entscheider sowohl sozialpolitische Ziele als auch klassisch wirtschaftsliberale. Sozialpolitisch wäre ein mögliches Motiv für das Dauersparen, die eingesparten Gelder für soziale Umverteilung zu nutzen. Aber Sozialpolitik ohne Daseinsvorsorge funktioniert nicht: Selbst wenn jeder Euro von den hunderten Milliarden Euro, die an der Infrastruktur eingespart wurden, an die Armen und Ärmsten ausgezahlt worden wäre: Mit Geld allein kann sich ein Einzelner kein Krankenhaus in der Näher erkaufen, keine Schule sanieren, keinen stillgelegten Bahnhof wiedereröffnen. Aber auch die Interessen von Industrie und Handwerk leiden unter dem Investitionsverzicht. Achtzig Prozent aller Bahngleisanschlüsse für Gütertransporte wurden abgebaut, die Betriebe mussten auf Lkw-Transport umstellen. Fahrten über kaputte Straßen kosten jedoch ebenfalls mehr Zeit und Geld als bei intakter Infrastruktur. In Regionen mit desolater Infrastruktur hat man auch Mühe, Fach­kräfte zu finden, die bereit sind, sich weitab von schnellem Internet oder von guten Bildungseinrichtungen für Kinder anzusiedeln.

Die Nachteile zu geringer Investitionen sind offensichtlich erheblich. Warum nur wurde in Deutschland so lange zu wenig investiert? Betrachtet man die Einnahmen und Ausgaben Deutschlands seit dem Ende der Amtszeit von Helmut Kohl, so lassen sich vier Abschnitte ausmachen. Von 1999 bis 2006 wurden staatlicherseits durchschnittlich sechs Prozent mehr ausgegeben als eingenommen. Gleichzeitig lagen die Investitionen unter dem Niveau der Vorjahre. Die Regierungen unter Gerhard Schröder hatten durch ihre Steuerreformen die staatlichen Einnahmen reduziert, gleichzeitig verschuldeten sie sich finanziell und durch faktische Infrastrukturverschuldung.

Mit dem Regierungswechsel 2005 begann unter Kanzlerin Angela Merkel und ihren Finanzministern Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble das Streben nach der schwarzen Null. Im Jahr 2007 schloss die Große Koalition das Haushaltsjahr erstmals mit einem Überschuss ab. Aus dem Jahr 2008 stammt auch Merkels Aussage zur schwäbischen Hausfrau, die nicht mehr ausgeben würde, als sie einnimmt. In der Finanzkrise ging die Bundesregierung allerdings im Widerspruch zu dieser Aussage wieder zu hohen Ausgaben über, besonders 2009 und 2010 bewirkten die Kosten der Bankenrettungen, dass die Staatsausgaben neun Prozent über den Staatseinnahmen lagen. Allerdings gab es in den Jahren 2008 und 2009 immerhin hohe Zuwächse bei den Investitionen. Die dritte Phase begann 2012 und endete 2019. Dies war die eigentliche Hochphase von schwarzer Null und Schuldenbremse: Jährlich wurden staatliche Überschüsse erzielt und Schulden abgebaut. Zu Beginn der Austerität senkte die Große Koalition gleichzeitig die Investitionen, ab 2015 hob sie sie wieder an, und zwar im Durchschnitt um jährlich etwa sieben Prozent. Phase vier bilden die Pandemiejahre 2020 bis 2022, die wieder von hohen Mehrausgaben gekennzeichnet waren, durchschnittlich wurden acht Prozent mehr ausgegeben als eingenommen. Die 2020 noch hohe Steigerung der Investitionen von zehn Prozent wurde 2021 kurz auf unter null gebremst und 2022 wieder mit neun Prozent fortgesetzt.

Insgesamt zeigt sich ein recht heterogenes Bild der deutschen Haushaltspolitik. Der Eindruck wird erst klarer, wenn man einen weiteren Parameter betrachtet: die Höhe der Zinsen, die Deutschland für seine Staatsanleihen bezahlt hat. Dort gab es im Wesentlichen zwei signifikante Veränderungen: der Sturz der Zinsen nach der Weltwirtschaftskrise 2008 auf null und der rasante Anstieg auf das vorige Niveau ab Juli 2022. Nun sieht man: Deutschland hat viele Schulden gemacht, als Banken zu retten oder die Zinsen teuer waren, und es hat Schulden abgebaut, als die Zinsen bei null lagen. Die Investitionspolitik im gesamten Zeitraum war schwankend, die Investitionshöhe lag im Durchschnitt aber unterhalb der Mindestanforderung, nach der zumindest so viel ersetzt wird, wie verfallen war.

Zentrum und Ausdruck dieser spezifischen Haushaltspolitik ist die sogenannte Schuldenbremse. Sie wurde von SPD sowie CDU/CSU unmittelbar nach der Finanzkrise vorgeschlagen und nach nur kurzer Debatte 2009 im Grundgesetz verankert. Und sie wurde in der Pandemie wieder ausgesetzt und wird aktuell auch grundsätzlich in Frage gestellt. Die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken verlangt, dass die Schuldenbremse auch 2024 ausgesetzt wird. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner, CDU, fordert, Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen.7 Die in den USA lehrende Volkswirtin Isabella Weber spricht in Bezug auf die deutsche Sparpolitik von „Kopfschütteln unter internationalen Expertinnen und Experten“ und führt aus:

„Die Schuldenbremse ist seit 14 Jahren eine Zukunftsbremse gewesen. Es ist allerhöchste Zeit, das Ruder herumzureißen. […] Die Schuldenbremse allen notwendigen Investitionen überzuordnen und eine Rezession hinzunehmen, destabilisiert Wirtschaft und Gesellschaft.“ 8

Die Schuldenbremse als selbst geschaffener Sachzwang ist weder auf Vermögenserhalt noch auf die Erhöhung der Staatseinnahmen ausgerichtet. Sie verhindert allein die Neukreditaufnahme, und das auch nur für den klassischen Haushalt. Öffentliche Schulden durch kreditähnliche Rechtsverträge in öffentlich-privaten Partnerschaften sowie bei privatrechtlich verfassten Strukturen der öffentlichen Hand wurden damit erheblich bevorzugt. Es manifestiert sich eine Finanzpolitik unter dem Motto „lieber ein Schattenhaushalt als gar keine Finanzierung“. Auf diesem Weg fördert die Schuldenbremse Privatisierungen.

Es ist berechtigt, nach dem „Cui bono“ des deutschen Umgangs mit seiner Daseinsvorsorge zu fragen: Wer hat hier einen Nutzen? Investitionsstaus zu schaffen statt kontinuierlich zu investieren erzeugt einen stetig wachsenden Druck bei gleichzeitig immer höherem Kapitalbedarf. Am Ende ist zu erwarten, dass nachholend investiert werden muss, wobei dann die laufenden Haushaltsmittel aus Steuern und Gebühren dafür nicht ausreichen und die Staatsverschuldung ausgeweitet wird. Regelmäßige Investitionen benötigen keine Kredite, Investitionsstaus schon. Davon profitieren private Kreditgeber, die mit sicheren Anleihen Zinsen verdienen. Private Kreditgeber zogen einen Vorteil daraus, dass sich Deutschland bevorzugt dann stärker verschuldete, als die Zinsen hoch waren und in Zeiten von Negativzinsen offizielle Schulden abgebaut und sich stattdessen auf hochverzinsliche Schattenhaushalte verlegt hat. Von den Privatisierungen profitierten auch die Eigentümer der großen und größten Vermögen, während alle anderen daraus Nachteile haben. Mit den Privatisierungen kamen die Kapitalanleger günstig an Einrichtungen, aus denen sie eine Zeitlang, weitgehend ohne zu investieren, Gewinne erzielen konnten. Wurden die Investitionsstaus zu groß, konnten die privatisierten Bereiche zur Sanierung wieder an den Staat gegeben werden, der weiterhin die Gewährleistungspflicht zur Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge behalten hatte, so geschehen bei den Berliner Wasserbetrieben oder 90 privatisierten Schulen im Landkreis Offenbach. Auch die verschiedenen Bailouts und Bankenrettungen sind zu den Privatisierungen zu rechnen. Dabei übernahm der Staat mit Steuergeld die Kosten für Spekulationen von Privatanlegern, ohne sich dauerhaft Eigentumsrechte dafür zu sichern. Die solcherart neu kapitalisierten Anleger konnten nun erneut auf Einkaufstour gehen.

Es ist anzunehmen, dass die lange Phase der Unterinvestition in Deutschland in naher Zukunft beendet werden muss, andernfalls drohen massive soziale und wirtschaftliche Brüche. Es stellt sich die Frage, mit welchem Geld der Investitionsstau aufgelöst werden soll. Dazu stehen drei Optionen zu Auswahl: Ausgaben an anderer Stelle kürzen, zusätzliche Schulden machen oder die Einnahmen erhöhen. Was Ausgabenkürzungen betrifft, gibt es angesichts der großen Summe von jährlich 120 Milliarden Euro, die für dringend erforderliche Sanierungen veranschlagt werden, keine relevanten Spielräume mehr. Hinsichtlich neuer Kredite hat das Verfassungsgerichtsurteil vom November 2023 gezeigt, dass die Vorgaben der Schuldenbremse nicht noch weiter überdehnt werden können. Um neue Schulden in der erforderlichen Größenordnung zu machen, müsste daher die Schuldenbremse reformiert oder es müssten grundgesetzlich zusätzliche Sonderschulden erlaubt werden wie im Beispiel des 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds für Rüstung. Die beiden Varianten Ausgabenkürzung und weitere Verschuldung lasten die Kosten den weniger Begüterten und Vermögenslosen auf. Es können aber auch die Einnahmen durch Heranziehen der Superreichen erhöht werden. Vor allem die Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften sowie das Schließen von Steuerlücken bieten sich an. Verkürzt kann man sagen: In der Frage des Erhalts und Ausbaus der Daseinsvorsorge und des Klimaschutzes steht eine große politische Auseinandersetzung um die Finanzierung an: Entweder zieht die Regierung wieder die 90 Prozent oder 99 Prozent der Bevölkerung heran, die stets bezahlen mussten, darunter auch die Armen und Ärmsten. Oder sie wagt es endlich, die großen Vermögen zu besteuern.

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1 Beate Becker, Anne Bielefeld, 2023: Marode Deiche: Hochwasserschutz in NRW in Gefahr, WDR-Sendung vom 17.12.2023, https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/marode-deiche-hochwasserschutz_NRW_100.html

2 Expertenkommission im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, 2015: Zusammenfassung, https://www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/diw_01.c.500738.de/20150417_auszug_bericht_expertenkommission.pdf

3 Tagesschau, 2021: Debatte über Staatsschulden, Ökonomen fordern „Schluck aus der Pulle“ 12.10.2021, https://web.archive.org/web/20220816152126/https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/oekonomen-schulden-finanzierung-101.html

4 Piketty et al., 2022: Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018, deutsche Kurzfassung, https://wir2022.wid.world/www-site/uploads/2021/12/Summary_WorldInequalityReport2022_German.pdf

5 Piketty et al., 2018: Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018, deutsche Kurzfassung, https://wir2018.wid.world/files/download/wir2018-summary-german.pdf

6 DIW

8 Julius Betschka, Felix Kiefer, 2022: Isabella Weber im Gespräch, Tagesspiegel, 3. Januar 2024. https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/okonomin-isabella-weber-im-gesprach-die-schuldenbremse-ist-seit-14-jahren-eine-zukunftsbremse-10994233.html

Betroffene berichten: „Wenn ihr uns nicht helft, dann liegen wir in euren Betten!“

Bündnis Klinikrettung veröffentlicht Videoserie: Warum wohnortnahe Krankenhäuser unabdingbar sind

Pressemitteilung: Anlässlich der heißen Phase der Beratungen um die Krankenhausreform tritt das Bündnis Klinikrettung mit einer neuen Videoserie an die Öffentlichkeit. Hier kommen die Menschen zu Wort, die in der Debatte um die Krankenhausreform bisher weitestgehend ignoriert wurden: die Betroffenen. In kurzen Interviews berichten Krankenhausbeschäftigte und Patient*innen aus ländlichen Regionen über die Folgen von Krankenhausschließungen, die sie ganz persönlich erfahren haben und erklären, warum wohnortnahe Krankenhäuser für sie unabdingbar sind. Die Videoreihe ist ein dringlicher Appell gegen die geplante Krankenhausreform, mit der systematische Schließungen von kleineren Krankenhäusern vor allem auf dem Landvorgesehen sind.

Heute geht das erste Video online. Rentner und ehemaliger Selbstständiger in der Holzverarbeitung Horst Vogel schildert authentisch, wie das Umland von Hersbruck seit der Krankenhausschließung mit Unterversorgung kämpft. Seine Worte sind ein Weckruf, dass die Schließungen in strukturschwachen Kommunen uns alle betreffen:

Wenn ihr uns nicht helft, dann liegen wir in euren Betten – wenn ihr uns nicht helft, dann liegen wir in eurem Krankenhaus!


Hier geht es zum Video: https://youtu.be/tfffOLArn8g?si=XlbSUyBGyRLjxnbZ

Im Wochentakt werden weitere Videos veröffentlicht. Sie sind ein dringend benötigtes Korrektiv der weitverbreiteten Verharmlosung von Krankenhausschließungen und immer wieder geäußerter Mythen einer bundesweiten Überversorgung. Das Bündnis Klinikrettung richtet damit ein Plädoyer an PolitikerInnen auf Bundes- und Landesebene, diese Stimmen der Betroffenen nicht weiter zu ignorieren.

Hintergrund

Eine neue Untersuchung des Bündnis Klinikrettung über Krankenhausschließungen seit 2020 zeigt, dass die entstandenen Versorgungslücken kaum kompensiert werden. Bei 77% der Schließungen gingen die stationären Kapazitäten vollständig verloren, nur in 5% der Fälle wurden alle Betten erhalten – aber nicht vor Ort. Bei 32% der Schließungen wurde der Verlust der medizinischen Versorgung auch durch keine andere Ersatzmaßnahme – wie beispielsweise eine ambulante Einrichtung – ausgeglichen. In einem Drittel der Fälle fiel die Versorgung also nach den Schließungen komplett weg.

Neue Untersuchung: Bettenverlust und kaum Ersatz nach Krankenhausschließungen

Pressemitteilung des Bündnis Klinikrettung

Eine neue Untersuchung des Bündnis Klinikrettung über Krankenhausschließungen seit 2020 zeigt, dass die entstandenen Versorgungslücken kaum kompensiert werden. Bei 77% der Schließungen gingen die stationären Kapazitäten vollständig verloren, nur in 5% der Fälle wurden alle Betten erhalten – aber nicht vor Ort. Bei 32% der Schließungen wurde der Verlust der medizinischen Versorgung auch durch keine andere Ersatzmaßnahme – wie beispielsweise eine ambulante Einrichtung – ausgeglichen. In einem Drittel der Fälle fiel die Versorgung also nach den Schließungen komplett weg.

Dr. Rainer Neef, Autor der Studie des Bündnis Klinikrettung:

Die notwendige medizinische Grundversorgung der Bevölkerung wurde durch Krankenhausschließungen stark beeinträchtigt. Stationäre Kapazitäten gingen verloren, die Versorgung vor Ort krankt an unzureichenden Ersatzlösungen. Nur die allerwenigsten Versprechen von Trägern und politischen Verantwortlichen wurden eingelöst. Das ist eine niederschmetternde Bilanz und sollte uns im Blick auf die geplante Krankenhausreform eine Warnung sein.

Laura Valentukeviciute, Sprecherin von Gemeingut in BürgerInnenhand:

Die geplante Krankenhausreform bezweckt eine Zentralisierung, viele kleinere Kliniken im kleinstädtisch-ländlichen Raum sollen daher geschlossen werden. Der Bevölkerung wird Ersatz in Form von ambulanten Einrichtungen versprochen. Abgesehen davon, dass ein Gesundheitszentrum kein Krankenhaus angemessen ersetzen kann, zeigt unsere Untersuchung sehr deutlich, dass in vielen Fällen nach einer Krankenhausschließung überhaupt kein Ersatz eingerichtet wurde. Besonders verheerend ist das für die klinische Geburtshilfe und die Notaufnahmen – sie gingen durch die Schließungen ersatzlos verloren.

Dr. Bernd Hontschik, Facharzt für Chirurgie und Autor:

Bei akuten Ereignissen ist die schnellstmögliche Hilfe entscheidend. Zentralisierte Krankenhäuser mit großartigen personellen und technischen Voraussetzungen helfen nicht, wenn der Patient es nicht mehr erreicht. Kleinere Krankenhäuser sind rasch erreichbar und ohne Wenn und Aber in der Lage, die Erstversorgung solcher Patienten zu leisten, um sie dann, je nach Notwendigkeit, in größere Häuser zu verlegen.

Unser gesamtes Interview zur Qualität kleiner Krankenhäuser mit Bernd Hontschik: https://www.gemeingut.org/worueber-wir-reden-wenn-wir-ueber-die-qualitaet-der-krankenhausversorgung-reden/

Pressekontakte:
Laura Valentukeviciute, Tel. 0176-233 203 73, laura.valentukeviciute@gemeingut.org
Dr. Rainer Neef, Tel. 0551-793742, rneef@gwdg.de

Pressemappe mit allen Dokumenten: https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2024/03/0_Ersatz-Krankenhausschliessungen_Pressemappe.pdf

Strategietreffen des Bündnis Klinikrettung zur Krankenhausreform

Einladung

Mit der aktuellen Krankenhausreform steht unsere Gesundheitsversorgung auf dem Spiel. Werden Lauterbachs Pläne Wirklichkeit, sehen wir einem Jahrzehnt von Krankenhausschließungen, Privatisierungen und weiterhin schlimmen Arbeitsbedingungen für das Krankenhauspersonal entgegen.

Dem Bündnis Klinikrettung ist es ein Anliegen, dass die im Reformprozess bisher weitestgehend ignorierten Betroffenen der Reform in der Öffentlichkeit und im Bundestag gehört werden. Wir wollen, dass eine Abkehr von Privatisierung und Profitmache im Krankenhausbereich endlich auf den Tisch kommt. Wie wir das organisieren können, dazu wollen wir uns auf einem zweitägigen Strategietreffen in Göttingen austauschen!

Bündnis Klinikrettung – Strategietreffen zur Krankenhausreform
Datum: 29.-30. September
Ort: Our House OM10, Obere-Masch-Straße 10, 37073 Göttingen

Interessierte sind herzlich eingeladen! Bitte anmelden mit Namen, Emailadresse und ggf. Angabe der Initiative/Organisation bis zum 20. September an: info@klinikrettung.de Es ist bei Bedarf auch möglich, nur am Samstag teilzunehmen. Wir nehmen sehr gerne weitere Vorschläge für die Tagesordnung entgegen.

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Bündnis Klinikrettung
Strategietreffen am 29. und 30. September 2023
PROGRAMM

Freitag

16:30 Begrüßung

  • kurze Vorstellungsrunde: Name, Ort/Bundesland, Initiative
  • Vorstellung und Zwischenbilanz des Bündnis Klinikrettung (Aktivitäten, Erreichtes)

17:00 Input & Diskussion: Krankenhausreform

  • Stand der Reform/Eckpunktepapier: Leistungsgruppen, Level, Vorhaltepauschalen (Klaus Emmerich, Laura Valentukeviciute)
    nächste Schritte im Gesetzgebungsprozess und unsere Interventionsmöglichkeiten (Laura Valentukeviciute, Jorinde Schulz)

17:55 Pause mit Kaffee & Tee

18:05 Akteursanalyse: Befürworter*innen & Gegner*innen der Reform

  • Rolle der Krankenkassen und anderer Verbände – DKG, BDPK, KBV, VKD u.a. (Thomas Strohschneider)
  • (unterschiedliche) Positionierungen der privaten Krankenhausbetreiber und Investoren (Anne Schulze-Allen)
  • erste Ideen für unsere Gegenstrategie (Herbert Storn)

19:00 Sitzungsende

20:00 Gemeinsames Abendessen

  • Abessina, Ritterplan 2, 37073 Göttingen

Samstag

09:30 Zusammenfassung der Ergebnisse vom Vortag

09:45 Strategie für den Reformprozess: Positionen & Kernforderungen

  • unsere Positionen zu Kernthemen (z.B. Ambulantisierung/MVZ/Level 1i/Gesundheitskioske, DRG/Vorhaltepauschalen, Fachkliniken)
  • Was sind unsere Maximalforderungen? Was wären akzeptable Verbesserungen? (z.B. Gewinnverbot und Selbstkostendeckung, Finanzhilfen/Inflationsausgleich)

11:00 Pause mit Kaffe und Tee

11:15 Strategie für Abwehr von Schließungen vor Ort

  • lokale Medien, Schließungsgutachten, Zeit gewinnen
  • Ländergruppen organisieren

12:30 Mittagspause

13:45 Planung unserer Aktivitäten

  • Verbreiterung des Bündnisses: Mit welchen Akteuren arbeiten wir zu welchen Punkten zusammen? (u.a. ver.di, Hebammenverbände, niedergelassene Ärzt*innen, Direktor*innen, Initiativen vor Ort)
  • Terminplanung auf Zeitleiste
  • Aktionsformen und Materialien überlegen (evtl. Social Media)

15:15 Pause mit Kaffee & Tee

15:30 Planung weiter, konkrete Schritte vereinbaren

  • Ergebnisse zusammentragen
  • Aufgaben festhalten, Verantwortlichkeiten verteilen, Arbeitsgruppen bilden

17:00 Sitzungsende

 

Krankenhausreform – Kahlschlag per Gesetz

Die Einschätzung des Bündnis Klinikrettung zu Lauterbachs Krankenhausreform

Die Bilanz ist erschreckend: Über 55 Krankenhäuser mussten seit 2020 bundesweit schließen, 14 allein im laufenden Jahr. Weitere 74 Kliniken sind akut von Schließung bedroht. In einer aktuellen Umfrage der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) geben 96 Prozent der Krankenhäuser an, ihre laufenden Kosten nicht aus den Einnahmen decken zu können; 69 Prozent sehen ihre Existenz gefährdet.

Besonders kleine Krankenhäuser, die als Allgemeinversorger für ländliche Gebiete fungieren und wichtige Abteilungen für Notfälle sowie Kinderstationen und Geburtshilfe bereitstellen, sind betroffen. Versorgungslücken, lange Anfahrtswege und Wartezeiten prägen zunehmend die Krankenhauslandschaft.

Lauterbach versprach, die Lage der Krankenhäuser durch eine Reform der Krankenhausfinanzierung zu verbessern. Nichts weniger als eine „Revolution“ stünde bevor. Verbal ging der Minister damit auf die breite Kritik an den DRG-Fallpauschalen ein (DRG: Diagnosis Related Groups). Mit den Fallpauschalen vergüten die Kassen den Krankenhäusern holzschnittartig Behandlungsfälle. Private Kliniken picken sich gern lukrative Behandlungen heraus und steigern möglichst deren Mengen, um Profite zu generieren. Öffentliche Grundversorger mit hohen Vorhaltekosten haben das Nachsehen.

Seit seiner Einführung 2003 trägt das DRG-System erheblich dazu bei, dass Klinikleitungen bestrebt sind, Personal einzusparen und die Arbeit unerträglich zu verdichten. Hinzu kommt, dass die Bundesländer ihrer Verpflichtung nicht nachkommen, Gelder für Investitionen bereitzustellen. Der politische Kurs der letzten Jahrzehnte führt inzwischen flächendeckend zu Schließungen unterfinanzierter Abteilungen – vor allem Geburtshilfe und Pädiatrie – oder ganzer Kliniken und befeuert Privatisierungen. Die vier größten Krankenhauskonzerne ziehen jährlich rund eine Milliarde Euro Gewinn aus dem Krankenhauswesen. Der Anteil privater Kliniken steigt kontinuierlich an, während die Zahl von öffentlichen und freigemeinnützigen Häusern seit Jahrzehnten abnimmt.

Kein Cent mehr für Krankenhäuser

Seit Juli liegt nun ein Eckpunktepapier von Bund und Ländern für die Krankenhausreform vor. Ein Blick darauf macht klar: Lauterbach löst sein Versprechen in keiner Weise ein, stattdessen stehen noch mehr Ökonomisierung und Bürokratie auf dem Programm: Die DRG-Fallpauschalen sollen nicht abgeschafft, sondern nur gekürzt und zum Teil durch die sogenannten Vorhaltepauschalen ersetzt werden. Aber auch diese Pauschalen decken die realen Kosten der Häuser nicht. Außerdem bleiben durch die Beibehaltung von Fallpauschalen deren Fehlanreize bestehen. Das Gesamtbudget ist dabei strikt gedeckelt, im Klartext: Es gibt keinen Cent zusätzlich für die Krankenhäuser. Somit verschärft sich die finanzielle Misere.

Die Schließungslobby sitzt mit am Tisch

In Lauterbachs Expertenkommission für die Krankenhausreform dominieren zwei Gesundheitsökonomen mit engen Verbindungen zu unternehmensfreundlichen Stiftungen und Krankenhauskonzernen: die Professoren Reinhard Busse und Boris Augurzky. Sie befürworten schon seit Jahren Krankenhausschließungen. Damit ist vorprogrammiert, dass der Abbau von Krankenhäusern ungebremst weitergehen wird. Wenn Lauterbach nun öffentlich verlauten lässt: „Wir stehen am Vorabend eines Krankenhaussterbens“, ist das purer Zynismus. Denn als verantwortlicher Minister hätte er die Möglichkeit, Krankenhäuser zu retten – doch er tut das Gegenteil. Schon seine ursprünglichen Reformpläne sahen explizit die Schließung von 20 Prozent aller Kliniken vor.

Die Konturen der Krankenhausreform wurden bereits 2019 in einer von Busse verantworteten Studie der Bertelsmann Stiftung vorgezeichnet. In deren Vorstand sitzt Brigitte Mohn, die gleichzeitig Mitglied im Aufsichtsrat der privaten Rhön-Klinikum AG ist – wie einst auch Karl Lauterbach. Augurzky wiederum leitet die konzernnahe Rhön Stiftung. Die Rhön-Klinikum AG gehört mittlerweile Asklepios, Deutschlands zweitgrößtem Krankenhauskonzern. Den großen Konzernen nützen Ökonomisierung und Zentralisierung. Es sind deren Interessen, die sich unter dem Tarnmantel wissenschaftlicher Expertise in die Reform eingeschlichen haben.

Lauterbach wiederum verkauft die Schließung von Krankenhäusern als Heilmittel gegen Personalmangel und angebliche Geldknappheit. Das vorhandene Personal solle einfach auf weniger Krankenhäuser verteilt werden. Die katastrophalen Arbeitsbedingungen und die fehlenden Ausbildungsplätze geht er nicht an. Auf Schulen übertragen wären das Schulschließungen, weil Lehrkräfte fehlen, und die Bildung von Mammutschulen mit riesigen Klassenverbänden.

Leistungsgruppen als Schließungsinstrument

Auf Lauterbachs erste Schließungsankündigungen folgte ein Aufschrei aus der Bevölkerung. Auch die Länder sahen sich durch Lauterbachs Vorhaben in ihrer Planungshoheit eingeschränkt. Im jüngsten Eckpunktepapier sind einige der ursprünglichen Vorschläge nun vermeintlich abgeschwächt. Die Einführung von Krankenhausleveln, anhand derer kleine Krankenhäuser zwangsweise zu bloßen Pflegezentren degradiert werden sollten, hat Lauterbach vorerst zurückgenommen. Auch der Plan, die bereits stark dezimierte Geburtshilfe nur noch in großen Krankenhäusern anzubieten, wurde kassiert.

Ein näherer Blick macht aber deutlich, dass die Reform nach wie vor flächendeckend auf Schließungen abzielt, das erfolgt jetzt allerdings indirekt. Als Instrument dafür dienen die neuen Leistungsgruppen, an deren Zuteilung auch die Vorhaltepauschalen gekoppelt sein sollen. Die Leistungsgruppen gliedern die medizinischen Bereiche in Teilbereiche auf, den Bereich Innere Medizin zum Beispiel in Herzchirurgie, Lungentransplantation usw.

Nur wenn einem Krankenhaus durch das Land eine bestimmte Leistungsgruppe zugeteilt wird, darf es die entsprechenden Behandlungen durchführen. Dafür müssen die Krankenhäuser vorgegebene Kriterien erfüllen, zum Beispiel eine jährliche Mindestzahl an Behandlungen erbringen oder eine ärztliche oder technische Mindestausstattung aufweisen. Was zunächst wie Qualitätssicherung klingt, wird unter dem Vorzeichen des Budgetdeckels schnell zu einem Schließungsinstrument. Denn für die Länder besteht der Anreiz, die Leistungsgruppen auf möglichst wenige Krankenhäuser zu verteilen, da dann für jedes Krankenhaus aus den begrenzten Krankenhauserlösen mehr Geld zur Verfügung steht. Anstatt Krankenhäuser finanziell und personell so zu ertüchtigen, dass sie alle notwendigen Behandlungen durchführen können, werden ihnen Behandlungen verboten. Das bedeutet gleichzeitig den Entzug der Finanzierung. Entscheiden sich die Länder trotzdem dafür, möglichst vielen Krankenhäusern Leistungsgruppen zuzuteilen, bekommen alle zu wenig Geld – und die schwächsten machen aufgrund von Verlusten dicht, wie es bereits jetzt vielerorts geschieht.

Eine Reform zugunsten privater Konzerne

In der Krankenhausplanung bekommen die Länder also die Wahlmöglichkeit zwischen Pest und Cholera: aktiv schließen oder sterben lassen. Außerdem ist die Umwandlung von Krankenhäusern in teilambulante Gesundheitszentren ohne Notfallversorgung vorgesehen, sogenannte intersektorale Versorger. Nach diesen greifen schon heute gern private Investoren, die damit Kasse machen wollen.

Erschreckend abwesend in der Reform sind die Belange von PatientInnen und Beschäftigten. Keine einzige Maßnahme zielt darauf ab, regionale medizinische Bedarfe zu ermitteln und sicherzustellen, dass die Gesundheitsversorgung entsprechend ausgestattet wird. Fortwährende finanzielle Knappheit und Schließungen werden den Personalmangel verschärfen. Der Gewinnabschöpfung durch Private schiebt die Reform keinen Riegel vor, gleichwohl fördert sie durch die Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung einen weiteren Privatisierungsschub.

Ein Kurswechsel ist dringend geboten

Beschäftigte und BürgerInnen müssen im Reformprozess gehört werden. Das Gewinnverbot für den Betrieb der Krankenhäuser, das bis 1985 galt, muss wieder auf den Tisch. Zur Lösung der Probleme sollte ein solidarisches Finanzierungsmodell herangezogen werden: die Selbstkostendeckung. Unterfinanzierung, Privatisierung und Renditeerwirtschaftung sind keine Grundlage für ein zukunftsfestes Krankenhauswesen – in den Mittelpunkt gehören Gemeinwohl und medizinische Bedarfe.

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Dieser Beitrag ist am 7. September als Startseitenartikel in der aktualisierten Zeitung „Krankenhausreform: Kahlschlag per Gesetz“ erschienen (die PDF-Datei der Zeitung kann hier eingesehen werden). Wir freuen uns, wenn Sie die Zeitung verbreiten. Für die Bestellung schreiben Sie uns eine Email an info@gemeingut.org und geben Sie bitte die Zahl der gewünschten Exemplare und Ihre Postadresse an.

Bayerische Sonderzeitung zur Krankenhausreform

Das Bündnis Klinikrettung hat seine 4-seitige Zeitung zur Krankenhausreform bereits in mehreren Auflagen veröffentlicht. Heute liegt eine bayerische Sonderausgabe zwei regionalen Zeitungen in Bayern bei, der Main-Post und der Schwabmünchner Allgemeinen. Die Zeitung enthält aktuelle Artikel und Interviews zu Lauterbachs Reformplänen sowie Beiträge, welche die Hintergründe der Krankenhausschließungen beleuchten.

Die Zeitung kann hier als Pdf-Datei heruntergeladen werden: https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2023/06/Zeitungsbeilage_Krankenhausreform-Bayern_GiB.pdf

Gerne verschicken wir Exemplare zur Verteilung vor Ort an Aktive, bitte eine Email schreiben an info@gemeingut.org.

 

Initiative für den Erhalt des Wenckebach-Klinikums wendet sich an Berlins neue Gesundheitssenatorin

Das Wenckebach-Klinikum muss wiederhergestellt werden!

Das fordert die Initiative Wenckebach-Krankenhaus muss bleiben aus Tempelhof von Berlins neu ernannter Gesundheitssenatorin Dr. Ina Czyborra (SPD). Gegen den Widerstand von Beschäftigten, GewerkschafterInnen, Bezirksverordneten und der bezirklichen SeniorInnenvertretung wurden Großteile des Klinikums im Herbst 2022 verlagert. Damit wurde der wichtige Standort als Krankenhaus der Allgemeinversorgung de facto geschlossen. Diesen Verlust eines wichtigen Teils der örtllichen Gesundheitsversorgung – inklusive einer Rettungsstelle – möchte die Bevölkerung nicht hinnehmen und erinnert die Senatorin: „Als neue Senatorin liegt es in Ihrer Hand, wie eine gesicherte stationäre Versorgung entsprechend der Erfordernisse für die Bevölkerung und des Fachpersonals auch im
WenckebachKlinikum umgesetzt wird.“

Der ganze Brief ist hier nachzulesen: https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2023/06/2023-06-05_Initiative-an-die-Gesundheitssenatorin.pdf

Bund-Länder-Beratung: Lauterbach lagert Krankenhausplanung an Unternehmensberater aus

Bündnis Klinikrettung startet Petition gegen Lauterbachs Reformvorschläge

Trotz breiter Kritik an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbachs Krankenhausleveln ergab die Bund-Länder-Beratung vom 23. Mai keine substantiellen Veränderungen an seinen Reformvorschlägen. Die Level bleiben, nur wird die Zuordnung zu ihnen leicht gelockert. 689 von insgesamt 1.719 somatischen Krankenhäusern, also ganze 40 Prozent, werden entweder zu bloßen ambulanten Einrichtungen degradiert (Level 1i) oder es sind Fachkliniken (Level F), die nicht zur klinischen Allgemeinversorgung beitragen. Um diesen besorgniserregenden Auswirkungen der Reform entgegenzutreten, hat das Bündnis Klinikrettung eine Petition an die Mitglieder des Gesundheitsausschuss im Bundestag und die MinisterpräsidentInnen der Länder gestartet.

Link zur Petition: https://www.openpetition.de/petition/online/stoppen-sie-lauterbachs-katastrophale-reformplaene-fuer-eine-echte-krankenhausrevolution


Laura Valentukeviciute, Geschäftsführerin
Gemeingut in BürgerInnenhand:

„Nach wie vor bedeutet die Krankenhausreform massenweise Krankenhausschließungen. Zudem bleibt unklar, wie viel die Länder bei der Krankenhausplanung mitentscheiden werden. Lauterbachs scheinbares Entgegenkommen bei den Leveln ist ein Täuschungsmanöver und die Länder machen es bereitwillig mit. Denn sowohl Laumann, Holetschek als auch ihren KollegInnen kommt es sehr gelegen, durch Schließungen Investitionsfördermittel für Krankenhäuser zu sparen. Nur will niemand dafür verantwortlich sein. Deswegen gibt es einerseits den Scheinwiderstand der Länder gegen die Reform und andererseits das Scheinentgegenkommen von Lauterbach. Am Ende wollen sie alle das gleiche – Krankenhausschließungen.“

Laut der Reform wird die zukünftige Krankenhausplanung von der Ausgestaltung der Leistungsgruppen und der Zuordnung von Kliniken zu Leveln abhängen. Mit dieser Aufgabe hat Lauterbach die Unternehmsberatungen Oberender AG und BinDoc beauftragt, die außerdem für das Bundesgesundheitsministerium eine Auswirkungsanalyse der Krankenhausreform erstellen sollen. Ein Vorstandsmitglied und eine Beirätin der Oberender AG sind bzw. waren beruflich mit der Rhön-Klinikum AG verbunden. Auch Lauterbach selbst war dort Aufsichtsratsmitglied. Für die Stiftung des Rhön-Kliniken-Gründers Eugen Münch fertigte die Oberender AG inmitten der Pandemie zusammen mit Prof. Dr. Boris Augurzky eine Studie an, die Klinikschließungen empfahl.(1) Derselbe Boris Augurzky sitzt nicht nur im Vorstand der Münch-Stiftung, sondern auch als Experte in Lauterbachs Regierungskommission zur Krankenhausreform.


Dazu Jorinde Schulz, Sprecherin
Bündnis Klinikrettung:

„Die Entscheidung über Krankenhauslevel und Leistungsgruppen ist Bestandteil der Krankenhausplanung und damit eine ureigene Aufgabe der öffentlichen Hand. Sie sollte Gegenstand breiter, öffentlicher Debatte sein. Stattdessen beauftragt Herr Lauterbach zwei Beraterfirmen mit Verbindungen zu einem der größten Krankenhauskonzerne Deutschlands und Kunden aus der Pharmaindustrie. Dass er gleichzeitig davon spricht, eine „Entökonomisierung“ im Krankenhauswesen anzustreben, ist blanker Hohn.“

Das Bündnis Klinikrettung hat eine Petition gestartet, um den aktuellen Reformplänen entgegenzutreten und Alternativen zu präsentieren.
Die Petition „Stoppen Sie Lauterbachs katastrophale Reformpläne – für eine echte Krankenhausrevolution“ kann auf der online Plattform openpetition.de unterzeichnet werden: https://www.openpetition.de/petition/online/stoppen-sie-lauterbachs-katastrophale-reformplaene-fuer-eine-echte-krankenhausrevolution


Klaus Emmerich,
Klinikvorstand i.R., Mitbegründer der Aktionsgruppe Schluss mit Kliniksterben in Bayern kritisiert:

„Kliniken sind nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil eines Netzes der Gesundheitsversorgung. Die aktuelle Reform ist von GesundheitsökonomInnen vorbereitet worden, die Kliniken als Einzelunternehmen aus betriebswirtschaftlicher Sicht betrachten. Sie haben keine Ahnung, wie die Gesamtstrukturen auf dem Land funktionieren. Deswegen wird in dieser Reform bundeseinheitlich diktiert, basierend auf Statistiken, ohne Rücksicht auf die Spezifika vor Ort.“

Klaus Emmerich weiter:

„Sowohl Lauterbach als auch seine MinisterkollegInnen gehen die Ursachen der Misere nicht an. Viele Probleme wären gelöst, wenn wir die Fallpauschalenfinanzierung abschaffen und mit der Selbstkostendeckung ersetzen sowie die Renditen in Krankenhäusern begrenzen würden. Es ist ein Skandal, dass es verschwiegen wird: Für die Abrechnung komplexer DRG-Fallpauschalen sitzen jährlich 145 Tausend klinische MitarbeiterInnen am Computer, statt sich um die Behandlung der PatientInnen zu kümmern. In Zeiten akuten Personalmangels ist dies schlicht und einfach inakzeptabel.“

(1) https://www.kma-online.de/aktuelles/management/detail/studie-empfiehlt-umwandlung-von-kleinen-klinken-nicht-schliessung-48385

Protest gegen Krankenhausschließungen und Lauterbachs Reform in Dresden

Am Freitag, dem 21. April, protestierten Aktive vom Dresdner Bündnis für Pflege, Mitglied im Bündnis Klinikrettung, gegen Lauterbachs Reformpläne. Mit einem Krankenhausfriedhof machten sie auf die über 500 Krankenhausschließungen seit 1991 aufmerksam und skandalisierten, dass mit der Krankenhausreform 600 weitere Schließungen drohen. Krankenhausbeschäftigte forderten in Redebeiträgen eine bedarfsgerechte und gemeinwohlorientierte Gesundheitsversorgung, denn: Gesundheit ist keine Ware!

Bündnis Klinikrettung zieht Bilanz: Klinikschließungen 2022, Versorgungsengpässe und die Probleme der Krankenhausreform

Mit den Level 1i-Krankenhäusern werden ländliche Gebiete zu Gesundheitsregionen zweiter Klasse

Auf seiner heutigen Pressekonferenz hat das Bündnis Klinikrettung zum dritten Mal in Folge eine Jahresbilanz der erfolgten und geplanten Klinikschließungen gezogen. Außerdem legte das Bündnis eine kritische Analyse der Vorschläge der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ dar und präsentierte dringend notwendige Reformalternativen.
Beispielhaft für die Misere der örtlichen Gesundheitsversorgung bei einer drohenden Krankenhausschließung berichtete einer der Initiatoren des erfolgreichen Bürgerbegehrens in Eckenförde.

Die vollständige Bilanz 2022 mit Schließungsliste: https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2022/12/1_Bilanz_BKR_Krankenhausschliessungen_2022-1.pdf
Die Analyse der Krankenhausreform: https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2022/12/2_Beurteilung_BKR_Krankenhausreform_2022-12.pdf

Laura Valentukeviciute, Bündnis Klinikrettung:
„Die Zahl unserer Krankenhäuser sinkt dramatisch weiter. Im Jahr 2022 schließen bis Jahresende insgesamt 13 Krankenhäuser, hinzu kommen 11 Krankenhäuser mit Teilschließungen, hauptsächlich Geburtshilfen. Unterfinanzierung und geplanter Abbau der Krankenhäuser spitzen sich weiter zu. Die Anzahl der drohenden Schließungen liegt rekordhoch bei 68.“

 

Valentukeviciute weiter:
„Die geplante Krankenhausreform hilft uns keinen Deut weiter. Lauterbachs Deckelung des Gesamtbudgets bedeutet, dass die knappen vorhandenen Ressourcen lediglich umverteilt werden. Deswegen wird es auch weiter ökonomisch bedingte Schließungen von Allgemeinkrankenhäusern geben. Die Probleme des DRG-Systems werden nicht wie versprochen überwunden, sondern teilweise sogar verschärft.“

Eine gravierende, bisher in der Öffentlichkeit wenig beachtete Folge der Reform ist die Aufteilung von Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung in die Level 1n und 1i. Nur Krankenhäuser des Levels 1n sollen noch eine Notfallversorgung bereitstellen. Krankenhäuser des Levels 1i hingegen sollen nicht unbedingt ärztlich, sondern von speziell ausgebildeten Pflegekräften geleitet werden, sie sollen lediglich über stationäre Pflegebetten verfügen und ambulante ärztliche Behandlung nur auf Abruf leisten.

Klaus Emmerich, Klinikvorstand i.R.:
„Man muss es deutlich sagen: Level 1i, das sind keine Krankenhäuser mehr. Ihnen fehlt die ärztliche Verfügbarkeit rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche, eine stationäre Notaufnahme sowie eine Intensivstation für klinische Notfälle. Wir reden hier von circa 650 der knapp 1.900 verbliebenen Krankenhäuser, die geschlossen und im Grunde in „bessere Pflegeheime“ umgewandelt werden sollen. Die Folge wird sein, dass ländliche Regionen zu Gesundheitsregionen zweiter Klasse degradiert werden.“

 

Henning Brien, Bürgerbegehren Eckernförde:
„In den ländlichen Regionen brauchen die Menschen wohnortnahe Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung mit Geburtsstation, einer zentralen Notaufnahme und idealerweise einer Kindermedizin. Das gehört zur Daseinsvorsorge und muss gewährleistet werden. Dies entlastet obendrein den regionalen Schwerpunkt- und den überregionalen Maximalversorger.“

Brien weiter: „Auch bei uns in Eckernförde wird die Krankenhausschließung mitunter damit begründet, dass das knappe Personal besser in wenigeren Kliniken konzentriert werden sollte. Das beste Beispiel, dass das reines Wunschdenken ist, zeigt sich an den Hebammen. Die Geburtsstationen schließen seit Jahren – und im Vergleich zu anderen Stationen überproportional häufig. Deswegen gibt es aber nicht mehr Hebammen die geburtshilflich arbeiten – im Gegenteil. Die meisten Hebammen gehen nach dem Wegfall ihres Arbeitsplatzes nicht in die großen Zentren und stehen dem „Geburtsmarkt“ nicht mehr zur Verfügung. Somit steigt die Anzahl der betreuten Geburten pro Hebamme an den weiterhin bestehenden Geburtsstationen an. In Folge entsteht eine Verdichtung der Arbeit und die direkte Betreuungszeit für die einzelne Schwangere reduziert sich. Alleine im Kreißsaal zu liegen hat wenig mit Qualität zu tun.“

Kontakte für Rückfragen
Laura Valentukeviciute: laura.valentukeviciute@gemeingut.org, 0176 23320373
Klaus Emmerich: klaus_emmerich@gmx.de, 0177 1915415


Weitere Materialien

Folien zur Bilanzpressekonferenz:
https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2022/12/3_Krankenhausreform_Klaus-Emmerich_Folien-1.pdf

Wenn der versprochene Ersatz ausbleibt, 3 Beispiele: https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2022/12/4_Wenn-der-versprochene-Ersatz-ausbleibt-1.pdf

Das Bündnis Klinikrettung hat eine ausführliche Studie zur Selbstkostendeckung als Finanzierungsmodell vorgelegt: https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2022/12/2022-10_Studie_Selbstkostendeckung_Buendnis_Klinikrettung_aktualisierte_Ausgabe_2022-12-12.pdf

Die Bewertung der Reform durch die Aktionsgruppe Schluss mit Kliniksterben in Bayern: https://www.gemeingut.org/wordpress/wp-content/uploads/2023/01/Grosse-Krankenhausreform-Bewertung-der-dritten-Empfehlung-der-Regierungskommissison_KE_12-2022.pdf