Auswege aus der Zerstörung der Infrastrukturen

Öffentliche Armut und privater Luxus: Wie die Regierungen das Gemeinwohl schleifen

Der Staat lässt in Deutschland die Infrastrukturen verfallen. Der Umfang des Verfalls dringt erst langsam ins öffentliche Bewusstsein, tatsächlich ist aber der Schaden bereits immens. Durch diese Substanzvernichtung schrumpft das öffentliche Vermögen. Private Vermögen hingegen wachsen immer weiter, auch aufgrund von Privatisierungen der Daseinsvorsorge. Abhilfe schaffen
kann die Vermögensteuer.

Seit 25 Jahren investieren Bund und Länder weniger, als gleichzeitig durch natürliche Alterung verloren geht. Betroffen sind Schulen, die Bahn, Krankenhäuser, Straßen, Wasserleitungen, Rathäuser, Strommasten, Fernsehtürme – fast jegliche technische Anlage der Daseinsvorsorge wird seit Jahren im Durchschnitt schlechter. Eisenbahnbrücken und Strommaste verrosten. Bahnschienen bekommen Scharten und bilden unter Materialermüdung Risse aus, die sukzessive zum Bruch führen können. Betongebäude und Betonbrücken carbonatisieren, Abplatzungen entblößen ihre Bewehrungseisen. Dächer, Keller und Wasserleitungen von Schulen werden mit der Zeit undicht, Wasser dringt in die Mauern ein, Schimmel macht die Räume unbrauchbar. Wasser- und Abwasserleitungen setzen sich zu und verstopfen. Von unterirdisch verlegten Leitungen werden einige durch den zunehmenden Straßen­verkehr mürbe und bersten. Asphaltbeläge bilden durch die Radlasten aus dem Schwerlastverkehr Spurrinnen. Risse in der Fahr­bahndeckung frieren im Winter auf und führen zu Schlaglöchern.Auch innerhalb öffentlicher Gebäude sieht es schlecht aus. Hier ist es der kurzlebigere Ausbau, der verfällt. Fenster und Sanitäranlagen müssen weit öfter saniert oder ausgetauscht werden als Bestandteile des Tragwerks, in vielen Schulen sind die Fenster kaputt, manche stürzen in den Schulhof, Klos stinken derartig, dass gemäß einer aktuellen Umfrage zahlreiche Kinder nur noch zu Hause auf die Toilette gehen. In techniklastigen Einrichtungen sind es die Anlagen zur Versorgung mit Strom, Gas und Wärme, die einer Erneuerung bedürfen. Auch die Technik zur Gebäudeheizung, Lüftung und Entlüftung, Steuerungstechnik, Sprinkleranlagen, Fahrstühle und Kommunikationstechnik haben eine durchschnittliche Nutzungsdauer unter 20 Jahren. Je komplexer die Anlagen, desto kürzer die Nutzungsdauer, IT-Technik muss in der Regel nach fünf Jahren ausgetauscht werden. Universitäten, die auch Labore anbieten, und Krankenhäuser mit ihren Operationssälen geraten besonders schnell in einen Investitionsstau. Selbst wenn technische Anlagen noch gut funktionieren, veralten sie, wenn sich die zugehörigen Standards ändern. Während die digitalen Endgeräte immer leistungsfähiger werden und immer mehr Datenmengen verlangen, wurde die Übertragungsgeschwindigkeit der Datennetze nur wenig erweitert, zudem ist die Versorgung regional unterschiedlich – vor allem ländliche Gebiete fallen immer weiter zurück.Es gibt auch unterlassene Investitionen beim Hochwasser- und Katastrophenschutz. Solche Einsparungen sind bei Normalwetter nicht erkennbar. Aber das Wetter ist nicht immer gut. Im Sommer 1997 kam es zu einer Jahrhundertflut an den Flussläufen der Oder in Tschechien, Polen und Deutschland, 74 Menschen starben, die Sachschäden lagen bei vier Milliarden Euro. In den folgenden Jahren wurden Deichlinie, Deichprofil und Deichhöhe verändert. Die tagelangen extremen Regenfälle im Jahr 2002 riefen an der Elbe eine Flutkatastrophe in Tschechien, Österreich und Deutschland hervor. Es zeigte sich, dass die Instandhaltung von Deichen vernachlässigt und zu wenige Überschwemmungsgebiete ausgewiesen worden waren. 45 Menschen verloren ihr Leben, die Schäden betrugen 15 Milliarden Euro. Später wurde das Unwetter als Jahrhundertereignis bezeichnet. Bereits 2006 gab es ein erneutes Elbhochwasser, bei dem teilweise die Höchststände von 2002 überschritten wurden. Die Wetterlage, die 2013 in ganz Mitteleuropa Hochwasser hervorrief, wurde ebenfalls als hundertjährliches Extremereignis eingestuft, 31 Menschen starben, der Sachschaden betrug neun Milliarden Euro. Im Juli 2021 kam es in mehreren Regionen Deutschlands zu schweren Niederschlägen. Dieses Mal starben infolge von Überschwemmungen 180 Menschen, besonders betroffen war das Ahrtal. Flächenversiegelung, Entwaldung, ausgetrocknete Böden sowie fehlende oder falsch dimensionierte Hochwasserschutzmaßnahmen hatten dort die Situation verschärft, dazu kamen Fehler im Vorwarnsystem. Regenfälle Im Dezember 2023 lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit auf marode, aufgeweichte Deiche. Exemplarisch zeigte sich der Sanierungsstau in Nordrhein-Westfalen: Von Anlagen mit einer Länge von rund 530 Kilometern soll dort mindestens bei der Hälfte Handlungsbedarf bestehen. Das Bundesland hat 44 Projekte als notwendig identifiziert, aber nur sechs begonnen.1

Beim Hochwasserschutz treffen Fragen von Infrastrukturerhalt und Klimaschutz aufeinander. Warme Luft speichert mehr Wasser, und größere Hitze führt zu mehr Verdunstung. Mit dem Anstieg der Durchschnitts­temperatur häufen sich damit Starkregenereignisse. Die Herausforderungen des Klimawandels verlangen daher nach einem Umbau der Infrastrukturen. Ein Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ist unumgänglich, für Energie aus Wind und Sonne fehlen allerdings Speicherkapazitäten, so dass die derzeit installierte Leistung nur zum kleineren Teil genutzt werden kann. Es fehlen auch Trassen in den Hochspannungsnetzen, mit denen die Windernte aus der Nordsee zu den Verbrauchern im Süden transportiert werden kann. Und für die zahlreichen Solar-Dachanlagen mit Kleinspeichern bräuchte es dezentrale Verteilnetze. Auch eine klimaschonende Mobilität erfordert erhebliche Investitionen: Wenn die Menschen nach und nach auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen, werden viele tausend Kilometer neue Bahn- und Straßenbahnkilometer benötigt, hunderte zusätzliche Wagen, Dutzende Werkstätten und Abstellanlagen. Und gleichzeitig entfällt die Notwendigkeit für hunderttausend Straßenkilometer und Dutzende Flughäfen, die rückgebaut werden müssen. Selbst das deutsche Abwassersystem kann vermutlich nicht einfach so bleiben wie es vor 150 Jahren konzipiert wurde: Trinkwasser wird zu kostbar, um damit dauerhaft Urin und Fäkalien wegzuspülen. Und Urin und Fäkalien sind mit ihren hohen Anteilen an Phosphor und Stickstoff wiederum zu wertvoll, um als Klärschlamm verbrannt zu werden. Während besonders in den Städten Menschen wie Vegetation unter den immer trockeneren Hitzesommern leiden, wird dort das wertvolle Regenwasser meist noch über schadstoffbelastete Dächer und Straßen abgeleitet und vergiftet mehrmals im Jahr bei Starkregen unsere Flüsse.

Der Verfall der Infrastrukturen in Deutschland wird seit Jahren angeprangert. Eine bereits 2014 eingesetzte Regierungskommission zur „Stärkung von Investitionen in Deutschland“ kam in ihrem Abschlussbericht zum Schluss:

Eine zentrale Schwäche in Deutschland ist die fehlende Erhaltung der öffentlichen Infrastruktur in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Da insbesondere Städte und Gemeinden mit geringer Wirtschaftskraft ihre Investitionsbudgets in den vergangenen Jahren erheblich reduziert haben, zeichnet sich gerade auf kommunaler Ebene ein zunehmender Investitionsbedarf, etwa in den Bereichen Verkehr, Bildung und soziale Infrastruktur, ab.“ 2

Ist also das ehemals reiche Deutschland inzwischen in vitalen Bereichen kaputt? Oder handelt es sich um ein Jammern auf hohem Niveau? Tatsächlich ist es nicht ganz einfach, den Wert von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge zu ermitteln. Deiche werden nicht am Markt gehandelt und werden dadurch nicht „bepreist“, und es gibt keine systematischen, regelmäßigen Schätzungen ihres Werts. Und was ist der Wert von einem Kilometer Straße, die gesetzlich dem Straßenverkehr gewidmet ist? Man kann immerhin Erhaltungsmaßnahmen über die dafür getätigten Ausgaben erfassen. Auch lassen sich die Kosten erfassen, die der Bau von öffentlichen Anlagen verursacht hat. Allerdings lässt sich damit noch nicht aussagen, welcher Mehrwert tatsächlich entstanden ist. Öffentlicher Bau neigt immer wieder zu eklatanten Kostensteigerungen. Die Elbphilharmonie in Hamburg hat das Zehnfache der ursprünglich eingeplanten Gelder beansprucht, der Berliner Flughafen BER das Siebenfache. Die Öffentlichkeit erhielt aber nicht sieben- oder zehnmal mehr an Infrastrukturvermögen. Das Projekt Stuttgart21 wird unter anderem deswegen kritisiert, weil dabei die Kapazität des Schienenknotens Stuttgart reduziert wird. Falls der Bahnhof jemals fertiggestellt wird, werden die Kosten nach den letzten Schätzungen 11,5 Milliarden Euro betragen haben, statt eines Mehrwerts hätte man jedoch einen Schaden zu verbuchen. Ein anderes Erfassungsproblem stellen Anlagen dar, für die sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Höchstspannungsnetze, die von 2023 stillgelegten Atomkraftwerken wegführen, mögen noch intakt sein, ihre Nutzbarkeit für öffentliche Zwecke ist jedoch stark reduziert. Dazu kommt, dass die in den meisten öffentlichen Haushalten übliche kameralistische Buchführung auf Zahlungsströme fokussiert und weniger auf Vermögenswerte.

Es gibt dennoch einige Zahlen aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Deutschlands, die Hinweise geben, wie sich Zustand und Wert der Daseinsvorsorge entwickeln. So waren die vom Statistischen Bundesamt erfassten öffentlichen Nettoinvestitionen seit 2001 in den meisten Jahren negativ, was bedeutet, dass in diesen Jahren so wenig investiert wurde, dass damit der Wertverfall von Straßen, Brücken und Schulgebäuden nicht mehr ausgeglichen werden konnte. In den letzten Jahren wurde zwar wieder etwas mehr investiert, aber nicht genug. Auch die anderen Länder Europas investieren im internationalen Vergleich wenig. Dennoch blieben die Investitionen in Deutschland im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) ein Viertel unter dem Durchschnitt der 27 EU-Länder (2009 bis 2020: durchschnittlich 73 Prozent). Deutschlandweit beträgt der Investitionsstau in der Daseinsvorsorge vermutlich 1,4 Billionen Euro. Dazu kommen die Um- und Ausbau­anforderungen: Marcel Fratzscher, Leiter der oben genannten Regierungskommission und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), bezifferte gegenüber dem ARD-Morgenmagazin die Kosten für Klimaschutz und Digitalisierung in den nächsten zehn Jahren auf 500 Milliarden Euro.3 Um bis 2045 klimaneutral zu werden, gehen andere Schätzungen davon aus, dass insgesamt eine Billion Euro zusätzlich in grüne Technologien und Infrastruktur investiert werden. Um den gesamten Investitionsstau innerhalb von 20 Jahren aufzulösen, werden somit 120 Milliarden Euro pro Jahr benötigt – zusätzlich zu den Geldern, die weiterhin jährlich aufgewendet werden müssen, um die bereits bestehenden Anlagen und Infrastrukturen nutzungsfähig zu halten.

Versäumte Investitionen können jedoch die Zerstörung der Infrastrukturen in Deutschland allein nicht erklären. Das öffentliche Vermögen, also alle Werte abzüglich der öffentlichen Schulden, sank nach den Angaben des Weltungleichheitsberichts 2022 in Deutschland in Bezug auf das jährliche Nationaleinkommen von 28 Prozent im Jahr 1980 auf vier Prozent im Jahr 2020. Ähnliche Entwicklungen gab es in Frankreich, Spanien, Großbritannien, Japan und in den USA.

In den vergangenen 40 Jahren sind die Volkswirtschaften deutlich reicher geworden, Regierungen aber deutlich ärmer. Der Vermögensanteil öffentlicher Institutionen ist in reichen Ländern nahe null oder negativ. Das bedeutet, dass sich das gesamte Vermögen in privater Hand befindet. Dieser Trend wurde durch die Covid-Krise verstärkt.“ 4

Als Ursache von Vermögensungleichheit identifizierte das Team aus international tätigen Wissenschaftlern um den französischen Ökonomen Thomas Piketty bereits 2018 den Trend zu Privatisierungen in den betrachteten Ländern:

Die zunehmende Einkommensungleichheit und die groß angelegte Umwandlung von öffentlichem Vermögen in privates Vermögen in den letzten 40 Jahren haben zu steigender Vermögensungleichheit zwischen Individuen geführt.“ 5

Tatsächlich gab es in Deutschland umfangreiche Privatisierungen. Es wurden Infrastrukturen verkauft oder langjährig per Konzession an Private abgegeben. Gleichzeitig zog sich der Staat vielfach aus dem Betrieb der Infrastrukturen teilweise oder vollständig zurück. Die Verkaufserlöse lagen unter den Kosten, die die Errichtung der Infrastrukturen verursacht hatten. Die Konzessionserlöse deckten die Sanierungskosten nach Rückübergabe an die öffentliche Hand nicht.

Ohne ausreichende Erhaltungsmaßnahmen ist es nur eine Frage der Zeit ist, bis kleinere Schäden zu großen Schäden führen, bis Teilnetze ausfallen oder sogar Netze vollständig kollabieren. Der Schaden trifft zuerst die Nutzer, die dann zum Beispiel nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus kommen, deren Haus nach einem Deichbruch unbewohnbar wird oder die auf andere Art unter einem Infrastrukturkollaps leiden.

Auch für die Volkswirtschaft insgesamt wird es teuer: Große Schäden zu beheben kostet deutlich mehr als regelmäßige Instandhaltung, weil unweigerlich mehr zerstört wird, als durch Alterung unvermeidbar wäre. Man begibt sich auch in die Hände weniger Großfirmen. Regelmäßige Instandhaltung wird von vielen mittelständischen Firmen angeboten, für Großsanierungen stehen in Europa nur fünf Firmen zur Verfügung, die bei eingeschränktem Wettbewerb die Preise weitgehend diktieren können.

Vorsatz oder Dummheit? Interessen hinter dem Niedergang der Daseinsvorsorge

Der Staat lässt in Deutschland die Infrastrukturen verfallen. Ist das einfach nur dumm? Tatsächlich dient dieses Vorgehen bestimmten Interessen. Kontinuierlicher Erhalt ist für Finanzmärkte und Bauindustrie weitgehend uninteressant, Privatisierungen und Totalsanierungen sind hingegen attraktiv. Die Vermögensteuer bietet einen Ausweg aus dem Teufelskreislauf.

Wirtschaftsförderung war und ist Ziel mindestens der letzten fünf Bundesregierungen gewesen, trotzdem haben sie alle auf ein wirksames Instrument verzichtet: auf öffentliche Investitionen. Sie regen die Wirtschaft zu weiterer Tätigkeit an. Jede in die öffentliche Infrastruktur investierte Milliarde generiert weitere 1,5 Milliarden an privater Wertschöpfung, im Bereich Umwelt und Bildung sogar 2,1 Milliarden Euro.

Bleiben die öffentlichen Investitionen aus, entfallen auch die privaten Folgeinvestitionen.6 Das Brettspiel „Monopoly“ ist zwar kein hinreichendes Abbild unserer Gesellschaft. Aber immerhin ist dort der Mechanismus zwischen Investition und Ertrag eingebettet. Wer möchte, kann einmal ein paar Runden Monopoly spielen, ohne zu investieren. Man wird feststellen, dass die Ausgaben die Einnahmen bald übersteigen – solange, bis man pleite ist. Wie ein solcherart nicht-investierender Spieler handeln seit 25 Jahren die Regierungen in Deutschland, von Rot-Grün über Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot bis hin zu Rot-Grün-Gelb. Nur sind nicht Spiel-Bahnhöfe der Einsatz, sondern unter anderem das echte Bahnsystem Deutschlands.

Durch Investitionszurückhaltung und durch eine substanzzehrende Politik konterkarieren die verantwortlichen Entscheider sowohl sozialpolitische Ziele als auch klassisch wirtschaftsliberale. Sozialpolitisch wäre ein mögliches Motiv für das Dauersparen, die eingesparten Gelder für soziale Umverteilung zu nutzen. Aber Sozialpolitik ohne Daseinsvorsorge funktioniert nicht: Selbst wenn jeder Euro von den hunderten Milliarden Euro, die an der Infrastruktur eingespart wurden, an die Armen und Ärmsten ausgezahlt worden wäre: Mit Geld allein kann sich ein Einzelner kein Krankenhaus in der Näher erkaufen, keine Schule sanieren, keinen stillgelegten Bahnhof wiedereröffnen. Aber auch die Interessen von Industrie und Handwerk leiden unter dem Investitionsverzicht. Achtzig Prozent aller Bahngleisanschlüsse für Gütertransporte wurden abgebaut, die Betriebe mussten auf Lkw-Transport umstellen. Fahrten über kaputte Straßen kosten jedoch ebenfalls mehr Zeit und Geld als bei intakter Infrastruktur. In Regionen mit desolater Infrastruktur hat man auch Mühe, Fach­kräfte zu finden, die bereit sind, sich weitab von schnellem Internet oder von guten Bildungseinrichtungen für Kinder anzusiedeln.

Die Nachteile zu geringer Investitionen sind offensichtlich erheblich. Warum nur wurde in Deutschland so lange zu wenig investiert? Betrachtet man die Einnahmen und Ausgaben Deutschlands seit dem Ende der Amtszeit von Helmut Kohl, so lassen sich vier Abschnitte ausmachen. Von 1999 bis 2006 wurden staatlicherseits durchschnittlich sechs Prozent mehr ausgegeben als eingenommen. Gleichzeitig lagen die Investitionen unter dem Niveau der Vorjahre. Die Regierungen unter Gerhard Schröder hatten durch ihre Steuerreformen die staatlichen Einnahmen reduziert, gleichzeitig verschuldeten sie sich finanziell und durch faktische Infrastrukturverschuldung.

Mit dem Regierungswechsel 2005 begann unter Kanzlerin Angela Merkel und ihren Finanzministern Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble das Streben nach der schwarzen Null. Im Jahr 2007 schloss die Große Koalition das Haushaltsjahr erstmals mit einem Überschuss ab. Aus dem Jahr 2008 stammt auch Merkels Aussage zur schwäbischen Hausfrau, die nicht mehr ausgeben würde, als sie einnimmt. In der Finanzkrise ging die Bundesregierung allerdings im Widerspruch zu dieser Aussage wieder zu hohen Ausgaben über, besonders 2009 und 2010 bewirkten die Kosten der Bankenrettungen, dass die Staatsausgaben neun Prozent über den Staatseinnahmen lagen. Allerdings gab es in den Jahren 2008 und 2009 immerhin hohe Zuwächse bei den Investitionen. Die dritte Phase begann 2012 und endete 2019. Dies war die eigentliche Hochphase von schwarzer Null und Schuldenbremse: Jährlich wurden staatliche Überschüsse erzielt und Schulden abgebaut. Zu Beginn der Austerität senkte die Große Koalition gleichzeitig die Investitionen, ab 2015 hob sie sie wieder an, und zwar im Durchschnitt um jährlich etwa sieben Prozent. Phase vier bilden die Pandemiejahre 2020 bis 2022, die wieder von hohen Mehrausgaben gekennzeichnet waren, durchschnittlich wurden acht Prozent mehr ausgegeben als eingenommen. Die 2020 noch hohe Steigerung der Investitionen von zehn Prozent wurde 2021 kurz auf unter null gebremst und 2022 wieder mit neun Prozent fortgesetzt.

Insgesamt zeigt sich ein recht heterogenes Bild der deutschen Haushaltspolitik. Der Eindruck wird erst klarer, wenn man einen weiteren Parameter betrachtet: die Höhe der Zinsen, die Deutschland für seine Staatsanleihen bezahlt hat. Dort gab es im Wesentlichen zwei signifikante Veränderungen: der Sturz der Zinsen nach der Weltwirtschaftskrise 2008 auf null und der rasante Anstieg auf das vorige Niveau ab Juli 2022. Nun sieht man: Deutschland hat viele Schulden gemacht, als Banken zu retten oder die Zinsen teuer waren, und es hat Schulden abgebaut, als die Zinsen bei null lagen. Die Investitionspolitik im gesamten Zeitraum war schwankend, die Investitionshöhe lag im Durchschnitt aber unterhalb der Mindestanforderung, nach der zumindest so viel ersetzt wird, wie verfallen war.

Zentrum und Ausdruck dieser spezifischen Haushaltspolitik ist die sogenannte Schuldenbremse. Sie wurde von SPD sowie CDU/CSU unmittelbar nach der Finanzkrise vorgeschlagen und nach nur kurzer Debatte 2009 im Grundgesetz verankert. Und sie wurde in der Pandemie wieder ausgesetzt und wird aktuell auch grundsätzlich in Frage gestellt. Die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken verlangt, dass die Schuldenbremse auch 2024 ausgesetzt wird. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner, CDU, fordert, Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen.7 Die in den USA lehrende Volkswirtin Isabella Weber spricht in Bezug auf die deutsche Sparpolitik von „Kopfschütteln unter internationalen Expertinnen und Experten“ und führt aus:

„Die Schuldenbremse ist seit 14 Jahren eine Zukunftsbremse gewesen. Es ist allerhöchste Zeit, das Ruder herumzureißen. […] Die Schuldenbremse allen notwendigen Investitionen überzuordnen und eine Rezession hinzunehmen, destabilisiert Wirtschaft und Gesellschaft.“ 8

Die Schuldenbremse als selbst geschaffener Sachzwang ist weder auf Vermögenserhalt noch auf die Erhöhung der Staatseinnahmen ausgerichtet. Sie verhindert allein die Neukreditaufnahme, und das auch nur für den klassischen Haushalt. Öffentliche Schulden durch kreditähnliche Rechtsverträge in öffentlich-privaten Partnerschaften sowie bei privatrechtlich verfassten Strukturen der öffentlichen Hand wurden damit erheblich bevorzugt. Es manifestiert sich eine Finanzpolitik unter dem Motto „lieber ein Schattenhaushalt als gar keine Finanzierung“. Auf diesem Weg fördert die Schuldenbremse Privatisierungen.

Es ist berechtigt, nach dem „Cui bono“ des deutschen Umgangs mit seiner Daseinsvorsorge zu fragen: Wer hat hier einen Nutzen? Investitionsstaus zu schaffen statt kontinuierlich zu investieren erzeugt einen stetig wachsenden Druck bei gleichzeitig immer höherem Kapitalbedarf. Am Ende ist zu erwarten, dass nachholend investiert werden muss, wobei dann die laufenden Haushaltsmittel aus Steuern und Gebühren dafür nicht ausreichen und die Staatsverschuldung ausgeweitet wird. Regelmäßige Investitionen benötigen keine Kredite, Investitionsstaus schon. Davon profitieren private Kreditgeber, die mit sicheren Anleihen Zinsen verdienen. Private Kreditgeber zogen einen Vorteil daraus, dass sich Deutschland bevorzugt dann stärker verschuldete, als die Zinsen hoch waren und in Zeiten von Negativzinsen offizielle Schulden abgebaut und sich stattdessen auf hochverzinsliche Schattenhaushalte verlegt hat. Von den Privatisierungen profitierten auch die Eigentümer der großen und größten Vermögen, während alle anderen daraus Nachteile haben. Mit den Privatisierungen kamen die Kapitalanleger günstig an Einrichtungen, aus denen sie eine Zeitlang, weitgehend ohne zu investieren, Gewinne erzielen konnten. Wurden die Investitionsstaus zu groß, konnten die privatisierten Bereiche zur Sanierung wieder an den Staat gegeben werden, der weiterhin die Gewährleistungspflicht zur Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge behalten hatte, so geschehen bei den Berliner Wasserbetrieben oder 90 privatisierten Schulen im Landkreis Offenbach. Auch die verschiedenen Bailouts und Bankenrettungen sind zu den Privatisierungen zu rechnen. Dabei übernahm der Staat mit Steuergeld die Kosten für Spekulationen von Privatanlegern, ohne sich dauerhaft Eigentumsrechte dafür zu sichern. Die solcherart neu kapitalisierten Anleger konnten nun erneut auf Einkaufstour gehen.

Es ist anzunehmen, dass die lange Phase der Unterinvestition in Deutschland in naher Zukunft beendet werden muss, andernfalls drohen massive soziale und wirtschaftliche Brüche. Es stellt sich die Frage, mit welchem Geld der Investitionsstau aufgelöst werden soll. Dazu stehen drei Optionen zu Auswahl: Ausgaben an anderer Stelle kürzen, zusätzliche Schulden machen oder die Einnahmen erhöhen. Was Ausgabenkürzungen betrifft, gibt es angesichts der großen Summe von jährlich 120 Milliarden Euro, die für dringend erforderliche Sanierungen veranschlagt werden, keine relevanten Spielräume mehr. Hinsichtlich neuer Kredite hat das Verfassungsgerichtsurteil vom November 2023 gezeigt, dass die Vorgaben der Schuldenbremse nicht noch weiter überdehnt werden können. Um neue Schulden in der erforderlichen Größenordnung zu machen, müsste daher die Schuldenbremse reformiert oder es müssten grundgesetzlich zusätzliche Sonderschulden erlaubt werden wie im Beispiel des 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds für Rüstung. Die beiden Varianten Ausgabenkürzung und weitere Verschuldung lasten die Kosten den weniger Begüterten und Vermögenslosen auf. Es können aber auch die Einnahmen durch Heranziehen der Superreichen erhöht werden. Vor allem die Besteuerung großer Vermögen und Erbschaften sowie das Schließen von Steuerlücken bieten sich an. Verkürzt kann man sagen: In der Frage des Erhalts und Ausbaus der Daseinsvorsorge und des Klimaschutzes steht eine große politische Auseinandersetzung um die Finanzierung an: Entweder zieht die Regierung wieder die 90 Prozent oder 99 Prozent der Bevölkerung heran, die stets bezahlen mussten, darunter auch die Armen und Ärmsten. Oder sie wagt es endlich, die großen Vermögen zu besteuern.

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1 Beate Becker, Anne Bielefeld, 2023: Marode Deiche: Hochwasserschutz in NRW in Gefahr, WDR-Sendung vom 17.12.2023, https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/marode-deiche-hochwasserschutz_NRW_100.html

2 Expertenkommission im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, 2015: Zusammenfassung, https://www.diw.de/documents/dokumentenarchiv/17/diw_01.c.500738.de/20150417_auszug_bericht_expertenkommission.pdf

3 Tagesschau, 2021: Debatte über Staatsschulden, Ökonomen fordern „Schluck aus der Pulle“ 12.10.2021, https://web.archive.org/web/20220816152126/https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/oekonomen-schulden-finanzierung-101.html

4 Piketty et al., 2022: Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018, deutsche Kurzfassung, https://wir2022.wid.world/www-site/uploads/2021/12/Summary_WorldInequalityReport2022_German.pdf

5 Piketty et al., 2018: Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018, deutsche Kurzfassung, https://wir2018.wid.world/files/download/wir2018-summary-german.pdf

6 DIW

8 Julius Betschka, Felix Kiefer, 2022: Isabella Weber im Gespräch, Tagesspiegel, 3. Januar 2024. https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/okonomin-isabella-weber-im-gesprach-die-schuldenbremse-ist-seit-14-jahren-eine-zukunftsbremse-10994233.html

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