Der methodische Wahnsinn des Molekularbiologen

von Carl Waßmuth

Bild: Wikipedia

Es gibt ein Phänomen im Umgang mit unseren Gemeingütern, mit öffentlichen Institutionen unserer Daseinsvorsorge, das erst auf den zweiten Blick auf einen Zusammenhang mit Privatisierung schließen läßt. Kurz vor einer Privatisierung wütet bei dieser Erscheinung ein meist fachfremder Vorstandsvorsitzender und schiesst in für Aussenstehende und Beschäftigte als irrational wahrgenommener Weise das öffentliche Unternehmen „privatisierungsreif“. Der ausscheidende Bildungssenator Zöllner hat den Kindergärten und Grundschulen in Berlin einen solchen Bärendienst erwiesen.

Typische Privatisierungsabläufe lassen sich in sieben Schritte gliedern:

1. Ökonomisierung der Abläufe
2. Privatisierungspläne, Öffentliches Klagen über unzureichenden Mittel und schlechte Qualität
3. formale Privatisierung
4. materielle Privatisierung
5. „Daumenschraube“: Arbeitsplatzabbau, massives Outsourcing, Einstieg in (teilweise hochriskante) Geschäfte jenseits der Kernaufgabe der Daseinsvorsorge, rapide Anhebung der Preise und Gebühren
6. Vernachlässigung der Infrastruktur
7. Zusammenbruch und Wiederverstaatlichung

Nicht selten ist man jedoch gezwungen, im Rückblick der historischen Beschreibung einer Privatissierung eine Stufe 0 vorzuschalten:

0. (=Vorstufe): langjährige Vernachlässigung

In dieser Stufe Null kann eine Erscheinungsform von Privatisierungsvorbereitung auftreten, die im weiteren als sogenannter „letzten wahnsinnigen Geschäftsführer“ (1) näher beschrieben werden soll. Insbesondere soll mit dem Vorgehen des Bildungssenators Zöllner ein Beispiel gegeben werden.

Es handelt sich bei diesem letzten Geschäftsführer vor der Privatisierung zumeist um einen fachfremden, extrem autokratischen und beratungsresistenten Zerstörer. Er zerschlägt nahezu wahllos funktionierende Abläufe, zersplittert die Belegschaft, trifft wirtschaftlich desaströse Entscheidungen und bleibt bei alldem frei von jedem Selbstzweifel. Seine Amtszeit ist häufig kurz, manchmal nicht mehr als ein oder anderthalb Jahre, aber sie hinterläßt nicht selten bei den Beschäftigten und den KundInnen oder Gebührenzahlern den Eindruck: Was auch immer danach kommt – schlimmer kann es nicht sein. Im Vergleich zu diesem Wahnsinn ist auch jeder renditehungrige Investor ein ‚Weißer Ritter‘. Denn das Streben nach Rendite mag in der Daseinsvorsorge unpassend sein – es bringt zumindest die Rationalität zurück, alles wird vielleicht teurer, aber zumindest berechenbar.
Diese Wahnsinnigen sind zum Beispiel ein Musiker als Leiter eines Krankenhauses , ein Arzt, der Wasserbetriebe führt (2) oder – ein Molekularbiologe als verantwortlicher Senator für Grundschulen und Kindergärten.

Prof. Dr. E. Jürgen Zöllner war Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Berlin. Mit dem Ende dieser Legislaturperiode tritt er ab: Die eigene Bilanz des 65-Jährigen: die Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium sei ein Fehler gewesen. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/campus/1467471/
Manche meinen, dass es noch mehr Fehler gab: Beim Vergleichstest der Bundesländer landete Berlin immer auf den hinteren Plätzen. Bei den Leseleistungen der Neuntklässler 2009 kam die Hauptstadt nur auf den 15 Platz. Schlechter war nur noch Bremen. http://www.morgenpost.de/berlin/article1338355/Schlechte-Noten-fuer-Juergen-Zoellner.html
Aber das alles ist noch nichts gegenüber der Verwüstungsschneise, die Zöllner bei den städtischen Kindergärten und Grundschulen hinterlässt. Eine der ersten Amtshandlungen Zöllners war, die finanzielle Ausstattung von Kindergärten zu kürzen. Die waren 2006 in „Profit-Center“ ausgegliedert worden mit charmanten Namen wie „Kindergärten City“. Mit der neuen Eigenständigkeit verbunden war zum  Beispiel die Aufgabe, sich zukünftig selbst um Schneeräumdienste zu kümmern (3). Deutlich gravierender als die zusätzlichen Aufgabenbereiche hinsichtlich der Infrastruktur war die durch Zöllner um 10% gekürzte finanzielle Ausstattung der Kindergärten. Erzieherinnen und Kindergartenleitung kämpften fortan um jeden Cent, jeder Ausfall wegen Krankheit geriet zur Katastrophe. Falls sie mal einen Moment Luft haben, sind sie angehalten, einen Integrations-Aushorchungs-Fragetest durchzuführen, der verharmlosend „Sprachlerntagebuch“ genannt wird.

Noch gewaltsamer im wahrsten Sinne des Wortes ging es bei der Grundschulreform zu. Hier wurden zwei Maßnahmen miteinander verbunden: Zum einen wurde das Einschulungsalter auf fünf Jahre herabgesetzt. Zum zweiten wurden alle öffentlichen Grundschulen per Gesetz verpflichtet, erste und zweite Klasse künftig gemeinsam zu unterrichten. Für beides gibt es gute Argumente moderner Pädagogik und auch internationale Vorbilder, letzteres nennt man „flexible Schulanfangsphase“. Die Berliner Variante wurde fälschlicherweise Jahrgangsübergreifendes Lernen ( JüL) genannt und mit maximalem Unverstand und viel Gewalt eingeführt:

Gewalt 1: Die Fünfjährigen mussten nun eingeschult werden, ein ganzes Jahr Kindergarten entfiel. Ausnahmen wurden nicht zugelassen. Eltern, die ihr Kind als nicht reif genug ansahen, sahen sich mit der Realität konfrontiert, dass bei Beharren die Polizei ihr Kind abholen wird.
Gewalt 2: Die Lehrer wurden nicht für den Umstieg ausgebildet.
Gewalt 3: Den Schulen wurde die Möglichkeit verweigert, andere, pädagogisch ebenfalls sinnvolle und ihrer spezifischen Schulkultur näherstehende Konzepte umzusetzen.
Gewalt 4: Die Eltern wurden nicht auf die Veränderung vorbereitet, sie bekamen auch keine Möglichkeiten zur Partizipation oder begleitenden Mitgestaltung.
Gewalt 5: Die Schulen wurden personell nicht für das Konzept ausgestattet: Erforderlich für die flexible Schulanfangsphase ist ein Zwei-Pädagogen-System. Bereitgestellt wurde wenig mehr als die Hälfte davon.

Was sich ergab war dieses: Erstaunt stellte man fest, das die nun altersinhomogenen Klassen mit den vielen Fünfjährigen sehr unruhig waren. Die Kinder dürfen ein bis drei Jahre in der gemischten Anfangsklasse verbleiben. Die Zahl der Kinder, die nur ein Jahr benötigten, ist minimal. Drei Jahre benötigten je nach Schule jedoch 25% bis 50% der SchülerInnen. Völlig überforderte LehrerInnen und SchulleiterInnen prallten auf hochgradig genervte Eltern. Kinder, die ohne weiteres noch ein weiteres Jahr im Kindergarten (bei deutlich besserem Betreuungsschlüssel) hätten spielen können, mussten nun erfahren, dass Schule frustrierend ist: Du kannst es nicht, und – so stellen die Kinder das untereinander dar – deswegen bleibst Du sitzen.

Auch wenn es für viele ein Grund zum Jubeln war, von diesem Experiment wieder befreit zu werden: Zum Wahnsinn gehörte auch die Verunsicherung von Schulen und Eltern durch ständigen Kurswechsel. Kaum eingeführt, war „JüL“ doch nicht mehr verpflichtend, wurden doch Ausnahmen von der frühen Einschulung zugelassen. Viele Schulen und viele Eltern machten massiv von der Möglichkeit zum Ausnahmeantrag Gebrauch, erste Zahlen berichten bezogen auf die öffentlichen Schulen sogar von 75% .
http://www.tagesspiegel.de/berlin/schule/zoellner-lockert-regeln-fuer-jahrgangsuebergreifendes-lernen/2926296.html

Herrn Zöllner winkt nun der Ruhestand. Wohlverdient ist er nur aus Sicht derer, die ein völlig in Verruf geratenes öffentlichen Schulsystem gerne sehen. Das sind neben Bertelsmann und Arvato alle jene Privatkonzerne, die gerne an privaten Schulen und Bildungssystem verdienen.

“Though this be madness, yet there is method in’t.” („Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode“) (Shakespeare, Hamlet, II.2.206f)

(1) Die maskuline Form ist nach Statistik des Autors hier ausnahmsweise gerechtfertigt, denn bisher habe wurden nur Männer in diesem besonderen Amt angetroffen.

(2) Von 1994 bis 1999 war der Arzt Bertram Wieczorek Vorsitzender des Vorstandes der Berliner Wasserbetriebe. In diesen Zeitraum fallen gravierende Fehlentscheidungen z.B. zum Millionengrab „Schwarze Pumpe“, aber auch enorme Wasser-Gebührensteigerungen, die später als Argument für die Privatisierung verwandt wurden.
http://de.wikipedia.org/wiki/Bertram_Wieczorek und  http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8842977.html
„Für die geplante Privatisierung der BWB sind die nassen Geschäfte [des Bertram Wieczorek] eine böse Hypothek. Während die am Rande des Bankrotts lavierende Hauptstadt unbedingt verkaufen muß, können Interessenten vor dem Hintergrund der riskanten Expansion des Monopolisten den Preis gehörig drücken. “
„Gleichzeitig wurde Wasser in Berlin im Schnitt so teuer wie in keinem anderen deutschen Bundesland. In den achtziger Jahren gehörten die West-Berliner Wasser- und Abwasserpreise zu den niedrigsten der Bundesrepublik. Doch mit dem Hinweis, daß Milliarden für die Sanierung des maroden Ost-Berliner Wassersystems aufgewendet werden müssen, wurden seit der Wiedervereinigung in West-Berlin Preiserhöhungen um über 100 Prozent begründet. Im Ostteil der Stadt haben sich die Gebühren sogar verzwanzigfacht.“

(3) …was bereits in den ersten Tagen der neuen Rechtskonstruktion in einem schneereichen Januar 2006 zu Glätteunfällen führte.

1 Kommentar

  1. Zu den Ausnahemeanträgen für die Rückstellung von der vorgezogenen Einschulung liegen jetzt Zahlen vor: Laut Berliner Morgenpost sind das dieses Jahr 2247 Kinder. Das sind im Durchschnitt 9% aller einzuschulenden Kinder, in einzelnen Bezirken sogar 13 %. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Anzahl von Kindern in der gleichen Größenordnung in den Vorjahren gegen den Willen der Eltern und entgegen einer objektiven Einschätzung hinsichtlich der Schulreife zum in-die-Schule-gehen gezwungen worden waren. Mit den entsprchenden Folgen für die Psyche der Kinder und das Klima in den betroffenen Klassen. Und eine weitere Schreckens-Zahl wartet auf ihre Auswertung: Die Zahl der Krankmeldungen von GrundschullehrerInnen, die sogenannte JüL-Klassen zu übernehmen hatten. In einzelnen Schulen lag der Krankenstand dieser Gruppe gegenüber den KollegInnen um mehrere hundert Prozent höher.

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