Offener Brief an die Deutsche Bahn deckt neue Stuttgart 21-Risiken auf

Grafische Übersicht über die nach Stuttgart 21 freiwerdenden Flächen und ihre geplante Nutzung zur Stadtentwicklung. Bodack stellt in Frage, dass der Verkauf der Bahnflächen so reibungslos funktionieren wird, wie von der Deutschen Bahn AG angedacht.

Der Ingenieur und Stuttgart 21-Kritiker Prof. Karl-Dieter Bodack weist in einem am 08. Januar 2013 veröffentlichten offenen Brief an den Aufsichtsrat der Deutschen Bahn auf bisher unberücksichtigte Risiken beim Bau des unterirdischen Durchgangsbahnhofes hin. Carl Waßmuth von Gemeingut in BürgerInnenhand hat das Schreiben mitunterzeichnet.

Unter dem offenen Brief befindet sich zudem ein Schreiben, ebenfalls von Prof. Bodack, in welchem Alternativen zu Stuttgart 21 vorgestellt werden.

Offener Brief von Karl-Dieter Bodack an die Mitglieder des Aufsichtsrats der Deutschen Bahn AG

Sehr geehrte Damen und Herren,

in Veröffentlichungen und Gesprächen stellen wir immer wieder fest, dass wesentliche Risiken des Großprojekts unterschätzt, ignoriert und daher nicht bearbeitet werden. Bitte gestatten Sie mir zusammen mit elf weiteren Bahn- und Rechtsexperten, Sie auf ein Problemfeld hinzuweisen, das ein bislang noch nicht offen gelegtes Schadensvolumen für die DB AG in der Größenordnung von zurzeit bis zu 750 Millionen Euro in sich birgt.

Die DB AG hat derzeitigen Bahnflächen an die Stadt Stuttgart verkauft, den Erlös erfolgswirksam verbucht und im Jahre 2009 mit einem Betrag von 639 Mio. Euro in das Konzernergebnis eingestellt. Dabei geht die DB AG davon aus, dass die geplanten Anlagen den jetzigen Kopfbahnhof ersetzen und dessen Flächen entsprechend anderen Nutzungen zur Verfügung stehen werden. Die im Allgemeinen Eisenbahngesetz vorgeschriebenen Rechtsverfahren zur „Stilllegung“ und „Freistellung“ seien deshalb nicht relevant.

Dieser Auffassung widerspricht der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags mit einer Feststellung vom 31. 5. 2011 (Az:WD7-3000-132/11), in der er u.a. festgestellt: „Das Stilllegungsverfahren und das Planfeststellungsverfahren können einander nicht ersetzen. In bestimmten Fällen sind beide durchzuführen, wobei es sinnvoll ist, das Verfahren nach §11 AEG voranzustellen.“ Das gilt auch für die Freistellung: „Das Freistellungsverfahren (§23 AEG) ist ebenso wie das Stilllegungsverfahren (§11 AEG) strikt vom Planfeststellungsverfahren zu unterscheiden.“.

Im §11 AEG ist bestimmt, dass bei beabsichtigter Einstellung des Bahnbetriebs die entsprechende Strecke/der entsprechende Bahnhof ausgeschrieben und anderen Unternehmen zum Weiterbetrieb angeboten werden müssen. Im Fall des Stuttgarter Kopfbahnhofs hat sich bereits ein Unternehmen gegründet, das die Anlagen übernehmen möchte. Dies erscheint plausibel, da mit den vorhandenen Anlagen wesentlich geringere Trassen- und Stationsgebühren angeboten werden können und weil die Limitierungen des geplanten Tiefbahnhofs Dieselzüge ausschließen sowie besondere und aufwendige Sicherungseinrichtungen in den Zügen erfordern.

Im §23 des AEG ist bestimmt, dass eine Freistellung von Bahnbetriebszwecken nur dann erfolgen darf, wenn kein Verkehrsbedürfnis mehr besteht und langfristig keine Nutzung im Bahnbetrieb zu erwarten ist. Diese Genehmigung erscheint ausgeschlossen, weil der geplante Tiefbahnhof die Leistungsfähigkeit der vorhandenen Anlagen nicht erreichen kann und weil langfristig wesentlich mehr Zugverkehr erwartet werden muss. Das zeigen eindrücklich Daten des Nachbarlands Schweiz und des Hauptbahnhofs Zürich:

 

Deutschland Schweiz CH/D %
Gefahrene Bahnkilometer je Einwohner und Jahr 852 1672 196
Tausend Zugkilometer je Netzkilometer und Jahr 28,9 47,3 164

Quelle: UIC

 

Stuttgart Zürich Z/S %
Einwohner 580 391 67
Reisende im hauptbahnhof je Tag 240 400 167
Bahnsteiggleise heute* 16+2=18 22+4=26 144

* Kopfgleise+Durchfahrgleise einschl. S-Bahn

Daher ist absehbar, dass wahrscheinlich die Stilllegung und auf jeden Fall die Freistellung der heutigen Bahnanlagen ganz oder teilweise versagt werden.

Auf eine entsprechende Anfrage antwortete der Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart am 25.10. 2011 dem Gemeinderat u.a.: „Es ist davon auszugehen, dass in dem äußerst unwahrscheinlichen Fall, dass die Gleisanlagen des Kopfbahnhofs nicht rückgebaut übergeben werden können, ein Rechtsanspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags besteht und die Stadt den entsprechenden Grundstückskaufpreis analog des ursprünglich vereinbarten Rücktrittsrechts nebst einer Verzinsung von 5% zurückerhält.“

Im Gegensatz dazu schätzen wir das Verbot als hoch wahrscheinlich ein und sehen einen vergleichbaren Fall: Der Gemeinde Wiehltal wurde in letzter Instanz die Freistellung und anderweitige Nutzung erworbener und bereits stillgelegter Bahnanlagen untersagt, allein weil Eisenbahnvereine Freizeitverkehre auf der Schiene durchführen wollten!

Aufgrund der eindeutigen Bestimmungen des Allgemeinen Eisenbahngesetzes und der erfolgten Rechtsprechung muss damit gerechnet werden, dass die Stilllegung und Freistellung der Stuttgarter Anlagen gar nicht oder nur teilweise genehmigt werden. Daraus entsteht für die DB AG ein Risiko, das sich zurzeit auf etwa 750 Mio. Euro beziffert.

Wir beurteilen daher die Weigerung der DB AG, die gesetzlich notwendigen Verfahren zur Stilllegung und Freistellung durchzuführen, als grob fahrlässig: Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags empfiehlt in der genannten Feststellung ausdrücklich, die Verfahren jetzt durchzuführen!

Das absehbare Ereignis, dass die DB vertragsgemäß die zugeflossenen Grundstückverkaufserlöse zuzüglich der vereinbarten 5%igen Verzinsung an die Stadt Stuttgart zurückerstatten muss, führt, wenn diese in den Neubau von Stuttgart 21 investiert sind, zu dem genannten Schadensvolumen derzeit von 750 Mio. Euro. Wir raten Ihnen daher dringend, den Vorstand zu beauftragen, kurzfristig die Verfahren zur Stilllegung und Freistellung der vorhandenen Bahnanlagen durchzuführen und den Weiterbau erst dann frei zu geben, wenn diese Genehmigungen rechtskräftig erteilt sind.

Angesichts der beschriebenen gesetzlichen und faktischen Gegebenheiten möchten wir Sie auf vier Gesichtspunkte in Bezug auf Ihr Ämter als Mitglieder des Aufsichtsrats hinweisen:

  1. Wir halten es für grob pflichtwidrig, wenn der Vorstand der DB AG vorgibt, die Stilllegung des Kopfbahnhofs und die Freistellung der Bahnanlagen für Immobilienzwecke der Stadt Stuttgart sei problemlos erreichbar. Wir finden eine gegenteilige Auffassung auch in einem Rechtsgutachten des im Eisenbahnrechtwesen angesehenen Professor Dr. Urs Kramer, Universität Passau. Liegt Ihnen das Rechtsgutachten vor?
  2. Wenn es in Kürze in Ihrer Aufsichtsratssitzung darum gehen soll, wie Sie mit der Überschreitung der vertraglich bei „Stuttgart 21“ vereinbarten Kostengrenze von 4,526 Milliarden um weitere 2,3 Milliarden umgehen, ist zu bedenken: Bei Fortsetzung des S 21-Projekts sind darüber hinaus voraussichtlich bis zu 750 Mio. Euro zusätzlich an die Stadt Stuttgart zu erstatten: Die Finanzierungslücke beträgt dann mehr als 3 Milliarden Euro.
  3. Selbst wenn daran Zweifel bestünden, müsste angesichts der Auskunft des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestage und des Rechtsgutachtens des zweifelsfrei neutralen Prof. Dr. Urs Kramer die Frage der Entwidmung der Gleisanlagen sicher geklärt sein, bevor das zurzeit in den Anfängen stehende Bauvorhaben fortgeführt wird.
  4. Wir sind überzeugt, dass jedes „Weiter so“ trotz der gänzlich veränderter Lage und der neu erkannten Risiken grob pflichtwidrig wäre und Sie dem Risiko der persönlichen Haftung auf Schadensersatz und der Strafverfolgung wegen Untreue (§ 266 StGB) aussetzen könnte.

Wir geben Ihnen gern zu allen genannten Punkten weitere Auskunft und verbleiben mit freundlichen Grüßen

Unterschrift: kd.bodack
Prof. Dipl.-Ing. Karl-Dieter Bodack, M.S. Gröbenzell,
27 Jahre in Stabs- und Führungspositionen der DB/DB AG,
Sachverständiger im Schlichtungsverfahren „Stuttgart 21“,
Unternehmensberater, beauftragt auch mit Bahnprojekten.

Dieses Schreiben zeichnen mit:
Dr.-Ing. Rudolf Breimeier, Bad Bevensen, Ltd.Bundesbahndirektor a.D.
Peter Conradi, Stuttgart, Mitglied des Bundestags (SPD) 1972 – 1998
Dieter Doege, Vorstand ProBahn Landesverband Berlin-Brandenburg
Klaus Gietinger, Frankfurt, TV-Autor, ProBahn Landesverband Hessen
Dipl.-Ing. Eberhard Happe, Celle, Bundesbahndirektor a.D.
Dr. Eisenhart von Loeper, Nagold, Rechtsanwalt
Dipl.-Ing. Ulrich Pfeiffer, Schwetzingen, Geschäftsführer Eco-Consult GmbH
Dr. Wolfgang Staiger, Christian Petersohn, Sabine Lacher, Vorstände ProBahn Stuttgart
Dipl.-Ing. Carl-Friedrich Waßmuth, Berlin, beratender Ingenieur für das Bauwesen

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Das Schreiben „Für S21 und die Fildern gibt es Alternativen, die kostengünstiger und bis 2020 realisierbar sind“, in dem Alternativen zu Stuttgart 21 erläutert werden, steht für Sie hier zum Download bereit.

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