Ein Dreamteam (2)

Teil 2: Der Milliarden-Rückkauf

von Carl Waßmuth

Dirk Notheis hat die Kritik an seiner Beteiligung beim Verkauf der EnBW-Anteile des französischen Energieversorgers EDF an das Land Baden-Württemberg als „absurd“ bezeichnet. „Glaubt denn jemand, dass wir ein Mandat annehmen, das nicht mit dem Vergaberecht vereinbar ist?“, sagte Notheis der in Düsseldorf erscheinenden „Rheinischen Post“ (Samstagausgabe). Die baden-württembergische Landesregierung habe Morgan Stanley wegen ihrer Expertise bei der Privatisierung der EDF beauftragt, so Notheis weiter. (Quelle: T-online)

Es ist eine gern vorgebrachte Begründung, dass etwas nicht zu beanstanden ist, weil damit nicht gegen geltendes Recht verstoßen wird. Politische und moralische Fragen sind in so einer Antwort nicht existent. Nun ist diese Antwort aber auch aus einer anderen Sicht billig: Das Vergaberecht ist kein Rechtssektor wie jeder andere. Es gibt dort nicht kleine, mittlere und große Kanzleien. Im Vergaberecht sind nur Großkanzleien tätig, vornehmlich solche, die erst in den vergangenen Jahren von noch größeren US-amerikanischen Rechtsanwaltsfirmen aufgekauft wurden. Es kann nicht einfach eine kleine Bürgerinitiative bei ihrem lokalen Anwalt prüfen lassen, ob hier gegen das Vergaberecht verstoßen wurde. Wenn überhaupt Vergaberechtsverstöße nachgewiesen werden, dann weil eine andere große Firma geklagt hat. Ein solches gegenseitiges Augen-Aushacken ist jedoch enorm selten.

Die Investmentbank Morgan Stanley hat also einen Verkauf angebahnt, der ihr branchenüblich 0,8% des Transaktionsvolumens einbringt. Auch wenn beteuert wird, hier läge die Vergütung „weit darunter“ (Quelle: Berliner Zeitung), so geht es auch bei 0,4% immer noch um knapp 20 Millionen Euro, und auch die sind für Morgan Stanley kein kleiner Auftrag mehr. Schätzt man den Stundensatz der Bank auf 500 Euro pro Stunde, so ergeben sich 5.000 Arbeitstage für den Deal, also Arbeit für zwei Dutzend bestbezahlte Anwälte für ein ganzes Jahr.

Auch wenn der Betrag geheim bleibt, der an die Firma von Mappus‘ Busenfreund geht – so ist es vorgesehen – die 20 oder 40 Millionen Euro werden für die Steuerzahlenden und die Bürgerinnen und Bürger nicht den eigentlichen Ausschlag machen. Gravierender ist die Enteignung durch den eigentlichen Deal. Enteignung? Hier ging es doch um eine Wiederverstaatlichung, wenn auch mit dem kurzfristigen Ziel, die ENBW an die Börse zu bringen? Tatsächlich ist es so, dass nicht nur bei Privatisierungen die vorigen Eigentümer, nämlich die Bevölkerung geschädigt wird. Es gibt einen Kreislauf, der mit der Lebensdauer und dem Wartungs- und Investitionszustand der Infrastruktur zusammenhängt. Dieser Kreislauf geht so: unter Preis verkaufen, über Preis zurückkaufen. Sanieren. Wieder unter Preis verkaufen. Bei den Banken durfte das gerade weltweit beobachtet werden. Dort gibt es jedoch die Drohkulisse eines „systemrelevanten Crashs“, die vielen die Analyse eintrübt. Die Bewertung von Banken fällt zudem nicht nur dem einfachen Bürger schwer. Was ist unter Preis, was über Preis?
Die ersten 25% der EnBW wurden 2000 vom damaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel für 4,7 Milliarden DM verkauft. Ein Anteilschein kostet also, wenn für 45% nun 4,7 Milliarden Euro ausgegeben werden sollen, nur 8,6% mehr als vor 11 Jahren, der Preisanstieg liegt somit sogar unter der Inflationsrate für den Zeitraum. Das Handelsblatt errechnet inflationsbereinigt 45,60 Euro pro Aktie beim Verkauf gegenüber 41,50 Euro pro Aktie beim Rückkauf. Allerdings ist die wichtige Frage zu stellen: Ist die EnBW noch soviel wert? Eine Auskunft gibt der Preis an der Börse: Mappus zahlt immerhin 850 Millionen Euro mehr als den aktuellen Börsenwert der erworbenen Anteile (Quelle: Handelsblatt). Das ist aber nicht alles, was man über den Wert einer Infrastruktur im Bereich der Daseinsvorsorge sagen kann. So können private Anteilinhaber ihre Papiere abstoßen, wenn sich herausstellt, dass aufgrund maroder Infrastruktur die Versorgungssicherheit gefährdet ist. In staatlichem oder öffentlichem Eigentum geht das dann gerade nicht: man muss sanieren. Dass die Versorgungssicherheit ein Problem wird, darauf weisen gleich mehrere Umstände hin:

Zunächst ein Dementi: Am 9.11.2010 hat die Internationale Energieagentur der OECD in der Vorstellung ihres Energieberichts beteuert, dass in Deutschland die Versorgung gesichert ist. Das sollte hellhörig machen angesichts der massiven Stromausfälle in den USA 2003 und in Europa 2005 und 2006, die weitestgehend auf überalterte und schlecht gewartete Infrastruktur zurückgeführt wurden und denen keine großangelegten Sanierungs- und Ausbauprogramme folgten. (Quellen: Stromausfall USA 2003, Stromausfall Europa 2006) Die Hochspannungsleitungen in ganz Deutschland sind stark überaltert. Neuinvestitionen gab es zuletzt kaum, das ständige Flicken kommt in absehbarer Zeit an seine Grenzen. Großausfälle wie 2005 im Münsterland, als 250.000 Menschen tagelang ohne Strom auskommen mussten, werden sich häufen. Die überraschende Bereitschaft von E.On, auf Drängen der europäischen Wettbewerbsbehörde ihr Hochspannungsstromnetz zu verkaufen, weist in die gleiche Richtung – ebenso wie der geringe Erlös von nur 1,1 Milliarden Euro.

„Der Kauf wird nicht zulasten des Steuerzahlers gehen“, sagte Mappus. Die Dividendenzahlungen der EnBW würden „aller Voraussicht“ nach über den Zinskosten der Anleihe liegen, die das Land für den Kauf begeben muss. Daraus wird deutlich: Es werden massiv Schulden gemacht für den Kauf! Und ob die Dividenden dann so sicher sprudeln wie in den vergangenen Jahren, ist mehr als fraglich. Große Einsparungen wie nach der Fusion zum Start der EnBW sind nicht mehr möglich. Das neue Atomgesetz belastet die Energiekonzerne im Vergleich zu den volkswirtschaftlichen Kosten der Endlagerung nur mit lächerlich geringen Beträgen, und dennoch kostet die Brennelementesteuer Geld, für die EnBW über die kommenden 6 Jahre jährlich 440 Millionen Euro, die die Dividende schmälern werden. Dazu kommt die bereits geschilderte Überalterung der Anlagen und Netze. Und ein weiteres Problem ist die zunehmend problematische Struktur des Netzes: EnBW liegt mit einem Atomstromanteil von 57% selbst für die atomfreundliche Bundesregierung weit über dem Bundesdurchschnitt. Der Ausbau von regenerativen Energien, so zögerlich auch immer er kommen mag, wird in Baden-Württemberg mit besonders hohen Ausbaukosten beim Stromnetz verbunden sein.

„Warum wurde ausgerechnet dieses Geschäft ohne öffentliche Ausschreibung oder zumindest die vertrauliche Variante einer Ausschreibung, den sogenannten „Beauty Contest“, abgewickelt? In Deutschland wird selbst der Bau einer Bushaltestelle in einem transparenten Verfahren vergeben.“ – so fragt das Handelsblatt. Die Beantwortung dieser Fragen dürfte viele Bürger interessieren. Es geht um Energie als Gemeingut, um die Versorgungssicherheit und um viel Steuergeld. Überall heißt es, „nach Stuttgart 21“ werde es keine Großprojekte mehr geben, die ohne Bürgerbeteiligung zu machen sind. Der Rückkauf der EnBW-Anteile ist genau das. Weder die Steuerzahlenden, noch die Beschäftigten oder die Stromkunden, noch die von faktischen und potentiellen Umweltschäden Betroffenen durften hier mitreden.
All diese Gruppen außen vor zu halten, es also völlig geheim durchzuziehen – das ging nur mit einem Vertrauten. Dirk Notheis aus dem Dreamteam stand wie gewohnt zur Seite. Denn ein ganz banaler Grund für den völligen Ausschluss von Öffentlichkeit und demokratischer Teilhabe könnte sein, dass es schnell gehe musste – aus Sicht von Stefan Mappus. Denn vielleicht ist er schon in wenigen Monaten nicht mehr Regierungschef.

Nachsatz: Folgen von Stromausfällen im privaten Bereich nach Wikipedia:

  • Beleuchtung: Elektrisches Licht, Ampeln, Signale fallen aus. Ebenso elektrische Rolladenantriebe.
  • Mobilität: Aufzüge, Skilift, Seilbahn oder Parkhausschranken fallen aus.
  • Wärme: Die Heizung/Lüftung bzw. Klimaanlage fällt aus, Elektroheizungen aber auch Öl- und Gas-Zentralheizungen haben ohne elektrischen Strom keine Steuerung, keinen Zündfunken und keine Umwälzpumpe.
  • Lebensmittel: Lebensmittel werden im Kühlschrank nicht länger gekühlt und können bei einem längeren Stromausfall zum Verzehr nicht mehr geeignet sein.
  • Kochen: Elektroherd, Mikrowelle, Kaffeautomat, Wasserkocher funktionieren ohne den elektrischen Strom nicht.
  • Nachrichten: Rundfunk, Fernsehen und Radio funktionieren nicht.
  • Kommunikation: Mobilfunk, Festnetz sowie Computer und Internet stehen bei längeren Stromausfällen nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung.
  • Geld: Hardware und Geldautomaten von Banken sind meistens nicht funktionsfähig.
  • Einkaufen: In Supermärkten gibt es meist Einschränkungen, da weder Kassen, noch die Kühlung der Lebensmittel funktionieren.
  • Treibstoff: Die meisten Tankstellen haben weder einen Stromerzeuger, noch eine Einspeisevorrichtung für einen Stromerzeuger. Ohne Strom lässt sich der Kraftstoff nicht von den unterirdischen Tanks zu den Zapfsäulen pumpen.
  • Wasser: Bei einem längeren Stromausfall fallen Trinkwasseraufbereitung und Abwasserentsorgung aus.

Teil 1: Die Aufsteiger und die Bahnprivatisierung
Carl Waßmuth ist beratender Ingenieur für das Bauwesen. Ein Spezialgebiet seiner Tätigkeit sind sogenannte Freileitungen (Hochspannungsmaste). Carl Waßmuth ist Mitbegründer des Vereins „Gemeingut in BürgerInnenhand“.

Ein Dreamteam


Berlin, den 12.12.2010, von Carl Waßmuth

Spätzle-Konnektion oder Geschmäckle: Der Milliarden-Deal von Ministerpräsident Stefan Mappus, der für 4,7 Milliarden Euro 45% der EnBW zurückkauft, regt die Kommentatoren durch die ganze Republik zu Metaphern an. Grund ist die Beratung durch den Mappus-Weggefährten und -Intimus Dirk Notheis. Der Spiegel schreibt dazu: „Eine gigantische Transaktion für das Land – und ein gutes Geschäft für das beratende Bankhaus Morgan Stanley. Experten gehen davon aus, dass die Bank mit einer zweistelligen Millionensumme als Vergütung rechnen kann.“ (Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,733970,00.html) Nun ist es einfach einmal so: Die beiden kennen sich, der eine ist Banker, der andere Ministerpräsident – was ist letzten Endes dabei?

Es ist was dabei, das über ein Geschmäckle, diesen schönen schwäbischen Euphemismus, hinausgeht. Wie Politik und Privatinteressen sich gezielt vermischen, wie sich das Dreamteam für Interessen Dritter aufopfert, darüber soll nachfolgend berichtet werden.

Teil 1: Die Aufsteiger und die Bahnprivatisierung

Auf dem CDU-Bundesparteitag 2004 ging es hoch her. Normalerweise nicken die Konservativen mit dem C im Partei-Kürzel die Beschlussvorlagen des Vorstands ab. 2004 gab es aber einmal etwas Besonderes: einen Rednerstreit zwischen dem verkehrspolitischen Sprecher der CDU, Dirk Fischer, und einem 38-jährigen Newcomer aus Baden-Württemberg. Es ging um die Bahnprivatisierung, die Empfehlung der Antragskommission lautete:
„[…] Die CDU befürwortet eine klare Trennung zwischen dem „System Schiene“ und dem Unternehmen „Deutsche Bahn AG“. Solange Betrieb und Netz in einem Unternehmen geführt werden, ist eine Stärkung des Wettbewerbs durch einen diskriminierungsfreien Zugang unterschiedlicher Unternehmen zum Schienennetz nicht gewährleistet.“ (Quelle: Antrag Nr. A 694 – Bundesvorstand). Der Newcomer gewann den Rednerstreit, der Satz <<„Die CDU befürwortet eine klare Trennung zwischen dem „System Schiene“ und dem Unternehmen „Deutsche Bahn AG“.>> wurde gestrichen. (Quelle: Beschluß).

Der Name des Newcomers und Franz-Josef-Strauß-Verehrers lautete Stefan Mappus. Dass durch seinen Einsatz die SPD-Position ins CDU-Programm kam, erhöht die Besonderheit des Falls weiter. Doch es gab außer der SPD (und der Bahn-Gewerkschaft Transnet) noch jemanden, der die zitierte Trennung verhindern wollte: Die DB AG wollte auf keinen Fall von ihren wertvollen Immobilien getrennt werden. Stefan Mappus hatte in der CDU also vor allem die damalige Position des Vorstands der DB AG durchgesetzt. In den kommenden Jahren hat die DB AG dann tatsächlich Immobilien im Wert von mehreren Milliarden Euro veräußert, unter anderem durch den Verkauf von über 1000 Bahnhöfen oder des Immobilien-Gesamtpakets Aurelis. Damit hatte man sich dort die Kasse gefüllt für den Börsengang und für Einkaufstouren auf der ganzen Welt.

Es gibt noch einen Youngster, der eine besondere Beziehung zur DB AG hat: Dirk Notheis, von 1994 – 1999 Vorsitzender der Jungen Union in Baden-Würtemberg ist nicht nur Intimus und Trauzeuge von Stefan Mappus. Er wurde 2005 schon mit 35 Jahren Mitglied im Vorstand der Morgan Stanley Deutschland AG und ist seit 2009 dort Vorsitzender des Vorstands. Die CDU hat er immer „ehrenamtlich“ begleitet: Seit 16 Jahren ist er Mitglied des Landesvorstandes der CDU Baden-Württemberg. Morgan Stanley und insbesondere Notheis sind eng mit der DB AG vernetzt. Die Bank ist beim Monitoring der Bundesregierung bezüglich der Quartalsabschlüsse der Deutschen Bahn beteiligt und beriet die DB beim Verkauf der Fährschiffgesellschaft Scandlines. Beim Kauf des US-Transportunternehmens Bax war Morgan Stanley Mitglied im Konsortium für die zugehörige Anleihe. In einem  Gutachten 2005 befürwortete Morgan Stanley die Bahnprivatisierung.

Als es 2008 darum ging, welche Banken den Börsengang der DB ML AG begleitet, machte Notheis für Morgan Stanley das Rennen. Die Financial Times Deutschland schlagzeilte: „Dirk Notheis lenkt die Bahn an die Börse – Seit Montag steht das Bankenteam, das für die Bahn-Aktie im Oktober Investoren finden soll. Dirk Notheis, Vorstand von Morgan Stanley in Deutschland, hat dafür jahrelang gekämpft – und seine exzellenten politischen Kontakte ausgereizt.“ (Quelle: Financial Times Deutschland) Der Börsengang platzt, Hartmut Mehdorn muss gehen – zuletzt wurde die Ausspähung von über hunderttausend Mitarbeitern bekannt. Mehdorn fand später Unterschlupf im Aufsichtsrat von Air Berlin – und als Senior-Berater bei Morgan Stanley.

Und Mappus? Nur wenige Jahre nach dem Parteitagscoup ist er Ministerpräsident. Der DB hält er die Treue: Als ein Bürgeraufstand das Projekt Stuttgar21 zu kippen droht – ein Vorhaben, das aufgesetzt wurde, als Mappus noch an der Uni war – wirft er sein frisch erworbenes Amt in die Waagschale, um S21 zu retten.

Teil 2: Der Milliarden-Rückkauf

Carl Waßmuth ist beratender Ingenieur für das Bauwesen. Ein Spezialgebiet seiner Tätigkeit sind sogenannte Freileitungen (Hochspannungsmaste). Carl Waßmuth ist Mitbegründer des Vereins „Gemeingut in BürgerInnenhand“.

Planfeststellungsverfahren versus BürgerInnenbeteiligung

„Bewohner der Erde! Hier spricht Protestnik Vogon Jeltz vom galaktischen Hyperraum-Planungsrat. Wie ihnen zweifellos bekannt sein wird, sehen die Pläne zur Entwicklung der Außenregion der Galaxis den Bau einer Hyperraum-Expressroute durch Ihr Sternensystem vor. Und Ihr Planet ist einer von denen, die gesprengt werden müssen. Es gibt keinen Grund, dermaßen überrascht zu tun. Alle Planungsentwürfe und Zerstörungsanweisungen haben 50 ihrer Erdenjahre in ihrem zuständigen Planungsamt auf Alpha Centauri ausgelegen. Wenn Sie sich nicht um ihre ureigensten Angelegenheiten kümmern, ist das wirklich Ihr Problem.“

In der Debatte um Stuttgart 21 und weitere Großprojekte der öffentlichen Infrastruktur wird verstärkt ein Argument vorgebracht, das einen Nerv trifft in der Auseinandersetzung um die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie. Kommt die Bürgerbeteiligung in Planfeststellungsverfahren adäquat zustande?

Droht Deutschland die Lähmung?

BürgerInnenbeteiligung und BürgerInnenproteste drohen nach einer überspitzt formulierten Kritik seitens der Industrie generell große Infrastrukturprojekte zu verhindern und Deutschland auf diesem Wege zu lähmen. Exemplarisch kann dafür die Kritik des Vorstandsvorsitzen der DB AG Dr. Rüdiger Grube genannt werden, der nicht nur die Auffassung vertrat, es gebe kein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau: Grube warnte, dass ein Scheitern von „Stuttgart 21“ schwerwiegende Folgen für alle Projekte dieser Art in ganz Deutschland hätte.

„Es gehört zum Kern einer Demokratie, dass solche Beschlüsse akzeptiert und dann auch umgesetzt werden. Sonst werden bei uns keine Brücke, keine Autobahn und kein Windkraftpark mehr gebaut.“

Die deutsche Wirtschaft fordert wegen der massiven Proteste gegen Stuttgart 21 und andere Großprojekte sogar, die Einspruchsrechte der Bürger zu begrenzen. Der Präsident des BDI, Hans-Peter Keitel, gegenüber der Berliner Zeitung:

„Wir haben im weltweiten Vergleich eine einmalige Beteiligung von Bürgern und Verbänden. Manchmal müssen wir aber überlegen, ob das nicht zu viel und zu langwierig ist und es am Ende sogar mehr schadet als nützt.“

Ausstrahlung auf andere Projekte

Auch in Berlin flammen neue Proteste gegen den neuen Großflughafen in Schönefeld auf, nachdem die damit verbundenen Flugrouten öffentlich geworden sind. In kürzester Zeit entstanden 30 neue Bürgerinitiativen, deren Forderungen bis zum Baustopp in Schönefeld gehen. Wowereit und Platzeck bemühen sich schnell, eine Vergleichbarkeit mit Stuttgart zu dementieren:
Es sei nicht realistisch, einen Stopp der Arbeiten auf der Baustelle des künftigen Schönefelder Flughafens zu verlangen, sagte Brandenburgs Ministerpräsident, Matthias Platzeck (SPD). Der Flughafenbau sei mit dem Schienenverkehrsprojekt Stuttgart 21, für das Anwohner ebenfalls einen Baustopp erreichen wollen, nicht zu vergleichen.
Dabei gibt es durchaus Parallelen: Neue oder neu bekannt gewordene Informationen stellen die Geschäftsgrundlage des mit der ursprünglichen Planfeststellung geschlossenen Gesellschaftsvertrags in Frage. Von den Stuttgarter Bürgerinnen und Bürgern wurde konstatiert, dass dieser Gesellschaftsvertrags bei entfallener Geschäftsgrundlage keine Gültigkeit mehr hat. Wowereit und Platzeck fürchten sich nun zu Recht vor der Ansteckung mit dem Stuttgarter Virus.
Dass die Kontrahenten in Stuttgart am Ende der Schlichtungsbemühungen einen Bürgerentscheid ins Auge fassen, stimmt auch den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes Voßkuhle aus grundsätzlichen Erwägungen heraus bedenklich:

„Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernsthaftes Problem für die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten dar. Irgendwann muss hier ein Schlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenn die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden haben. Ansonsten verlieren wir unsere Zukunftsfähigkeit. Es mag Ausnahmen von diesem Grundsatz geben, diese sollten aber nicht Schule machen.“

Alles eine Frage der Vermittlung?

Vielfach wurde in Stuttgart vom Kommunikationsproblem gesprochen, wenn nach den Ursachen dafür geforscht wurde, wie es zu derart umfassenden und andauernden Protesten gegen ein Projekt kommen kann, das schon alle betroffenen Gremien passiert hat. Dazu Ministerpräsident Mappus:

„Wir müssen uns fragen, ob Großprojekte nicht anderes vermittelt werden müssen, diese Kritik nehme ich gerne auf“.

Ein Vermittlungsproblem sieht auch der Verfassungsrichter Voßkuhle:

„Ich bin ist sehr gespannt auf den Fortgang der Schlichtung, da hier Neuland beschritten wird. Auch bei einem erfolgreichen Abschluss des Schlichtungsverfahrens muss das Ergebnis rechtlich umgesetzt werden und auch rechtlich umsetzbar sein. Immerhin sind Planfeststellungsverfahren für Großprojekte mittlerweile sehr komplex, so dass oft nur wenige spezialisierte Anwaltskanzleien in der Lage sind, sie ernsthaft zu begleiten. Nicht zuletzt dadurch entstehen Vermittlungsprobleme in Richtung Bürger.“

Dass Voßkuhle Ausnahmen für möglich hält, legt allerdings nahe, dass dies juristisch möglich ist. Dass Ausnahmen nicht Schule machen sollen, ist somit bereits die politische Auffassung von Voßkulhle als Bürger und nicht die weitgehend neutrale Bewertung des Verfassungsrichters. Eine Lösung für die Kluft zwischen Komplexität und Bürgerbeteiligung hat er noch nicht.
Vermittler Heiner Geißler möchte hingegen durchaus die Ausnahme zur Regel machen:

All das, die angeblich „im weltweiten Vergleich eine einmalige Beteiligung von Bürgern und Verbänden“ (Hans-Peter Keitel, BDI), die Basta-Entscheidungen und auch das Passieren des Projekts „durch alle Gremien“ fußen auf einer Verwaltungsvorschrift, die dringend auf den Prüfstand gestellt werden muß: Dem Planfeststellungsverfahren. Vielleicht muß man diese Regel verändern, so dass kostenintensive Ausnahmen nicht mehr erforderlich sind.

Planfeststellungsverfahren in der Praxis

Planfeststellungsverfahren werden angesetzt, wenn große Infrastrukturvorhaben die Bürgerbeteiligung erfordern. Grundlage sind nahezu identische Landesgesetze der Bundesländer.

Das Verfahren ist danach wenigstens achtstufig:

1. Aufstellung der Planfeststellungsunterlagen,
2. Einleitung des Anhörungsverfahrens,
3. Öffentliche Auslegung des Plans,
4. Bürgerinformation und Beteiligung der Betroffenen,
5. Einwendungen und Anregungen, Erörterungstermin,
6. Planfeststellungsbeschluss,
7. eventuell Klage dagegen beim Verwaltungsgericht)
8. bestandskräftiger Plan

Eine Bestandskraft des „Plans“ liegt vor, wenn der Planfeststellungsbeschluss unanfechtbar ist.

Das deutsche Planfeststellungsverfahren ist jedoch für eine Bürgerbeteiligung denkbar ungeeignet:

  • Zunächst muss für die Berechtigung zur Beteiligung eine direkte Betroffenheit der Gesundheit oder des Vermögens nachgewiesen werden. Damit werden allgemeingesellschaftliche Anliegen explizit ausgeklammert. Wer sich gegen ein Projekt wehren möchte, weil es die Umwelt schädigt, Steuergelder verschwendet oder das Verkehrssystem zerstört, muss aussen vor bleiben.
  • Die Fristen der Auslegung sind sehr kurz: häufig betragen sie nur einen Monat. Die Dauer der Auseinandersetzung mit einem Sachverhalt spielt jedoch eine große Rolle. Gibt es nur eine Variante zur Auswahl, sinkt nicht selten die Zustimmung zu dieser Variante, je länger die Möglichkeit besteht, sich dazu zu informieren – und sich negative Auswirkungen klar zu machen.
  • Die Veröffentlichungen erfolgen „ortsüblich“, also über Amtsblätter und verwaltungstechnische Schriften und somit nicht über Wege, die eine wirkliche Partizipation von Laien zum Ziel haben.
  • Die Unterlagen sind alles andere als selbsterklärend. Laien benötigen eine Fortbildung in den betreffenden Fachsprachen, um tatsächlich mitdiskutieren und fachlich fundiert mitentscheiden zu können. Für solche Fortbildungen von Laien gibt es jedoch meist weder Gelegenheit noch die finanziellen Mittel. Eine Verpflichtung zur einfachen Darstellung der zu erwartenden Sachverhalte besteht hingegen nicht.
  • Gutachten werden nur „pro“ erstellt. Gutachter arbeiten für das Konglomerat aus Verwaltung und der Industrie, die bei Zuschlagserteilung dann von dem Vorhaben profitiert. Es besteht noch nicht einmal die Verpflichtung für Politik und Verwaltung, Gutachten, die die bevorzugte Variante positiv beleuchten sollten, die aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis kamen, zu publizieren.
  • Bestehen Bedenken bei Bürgern oder werden Alternativvorschläge entwickelt, besteht eine enorme Asymmetrie der finanziellen Mittel. Gegengutachten müssen selbst bezahlt werden, auf die Ressourcen der öffentlichen Verwaltung kann nicht zurückgegriffen werden. Die Asymmetrie setzt sich fort, wenn der Rechtsweg beschritten wird: Das Risiko, die Kosten zu tragen, ist für finanzschwachen Bürgerinitiativen viel schwerer zu tragen als für die öffentliche Verwaltung.
  • Die zur Planfeststellung ausgelegten Unterlagen stellen regelmäßig nur eine Variante dar und bewerben nur diese. Alternativen werden nicht zur Auswahl gestellt, ja nicht einmal untersucht. Bei Stuttgart 21 konnte aus dieser Position eine Alternative mit dem Titel Kopfbahnhof 21 als „Phantom“ diskreditiert werden: Es waren darin nur einige zehntausend Euro an Planungsgelder geflossen und nicht etliche Millionen wie für S21.
  • Das Verfahren dient dazu, kleine Anpassungen vorzunehmen, es geht nicht ums große Ganze. Die Integration von Widersprüchen dabei ist der Verwaltung anheimgestellt, die selbst nicht als neutral zu betrachten ist.
  • Am Ende steht kein Volks- oder Bürgerentscheid, der das ganze Projekt zur Abstimmung stellt, eventuell in Konkurrenz zu anderen Planungen.

Bei all diesen eminenten Schwächen sprechen viele dennoch von Glück, wenn man überhaupt ein Planfeststellungsverfahren hat: Die Elbphilharmonie, Rathaus-, Landtags- und Gefängnisneubauten, ja selbst Autobahnsanierungen erfolgen ohne jede Bürgerbeteiligung.

Alternative Direkte Demoratie

Die Schweiz hat nicht nur die fragwürdige Ausrichtung auf den sogenannten Hochgeschwindigkeitsverkehr auf der Schiene erwogen – und sich per Volksentscheid davon wieder abgewandt. Auch der weltweit als Vorbild geltende integrale Taktverkehr wurde eingeführt, weil sich die Schweizer Bürger in Volksentscheiden dafür entschieden hatten. In Stuttgart wird genau dieses bahnfreundliche System durch S21 für Jahrzehnte verunmöglicht. In der Schweiz hingegen stand zuletzt der neue Gotthardtunnel in allen Schlagzeilen:

„Der Durchstich am Gotthard zum längsten Eisenbahntunnel der Welt hat für die Schweiz eine hohe symbolische Bedeutung. Für die Schweiz ist der Bau dieses 57 Kilometer langen Tunnels ein ähnlicher Akt, wie es für Amerika die Landung auf dem Mond war. […]“

Dieses gewaltige Infrastrukturprojekt basiert ebenfalls auf Volksentscheiden. Die Schweizer sind zwar eifrige Bahnfahrer, dennoch wurde die Politik der Verlagerung in Verfahren der „direkten Demokratie“ gebilligt. „Wenn sich auch die Minderheiten wiederfinden, müssen sie nicht auf Proteste und Demonstrationen ausweichen“, sagte [der Schweizer] Verkehrsminister Leuenberger zu der Billigung des Projekts in mehreren Volksabstimmungen.
Den Stuttgartern wurde ein Volksentscheid versprochen, aber dann vorenthalten. Die Zunahme der Proteste in der Folge sind bekannt, bis hin zum Einsetzen eines Schlichters. Der Schlichtungsprozess zu S21 in Stuttgart soll hier nicht bewertet werden, zumal er noch kaum begonnen hat. Jenseits der poltrigen Äußerungen des Schlichters Geißler wurden jedoch eklatante Schwächen des Planfeststellungsverfahren dort bereits überwunden:

  • Es geht bei der Schlichtung nicht um die persönliche Betroffenheit der Beteiligten, vielmehr vertreten die Gegner des Projekts anerkanntermaßen gemeingesellschaftliche Interessen. Gleichzeitig sitzt mit dem formal privaten Bauherrn DB AG auch einer der Interessenvertreter der Privatindustrie am Tisch, was deutlich macht, dass hier nicht nur ein Konflikt zwischen Bürger und Verwaltung besteht.
  • Dass Gutachten Geld kosten und die bisherige Gutachter-Asymmetrie eines Ausgleichs bedarf, wurde in den Vorverhandlungen ebenfalls festgehalten, auch wenn noch nicht klar ist, ob dieser Ausgleich auch nur annähernd stattfinden wird.
  • Die Verhandlungen finden öffentlich statt, bis hin zur live-Video-übertragung im Internet.

Und last but not least ist die Schlichtung manifester Ausdruck des völligen Versagens eines vorausgegangenen Planfeststellungsverfahrens.

Veränderung ist notwendig

Das Planfeststellungsverfahren ist undemokratisch, intransparent und schließt auch durch seine anderen formalen Bedingungen einen Großteil derer vom Entscheidungsprozess aus, die eingebunden gehören. Das Planfeststellungsverfahren ist auch nicht allgemein, es findet in vielen relevanten Bereichen keine Anwendung. Das Planfeststellungsverfahren ist enorm unpolitisch und verhindert, dass Entscheidungen zum Wohle der Allgemeinheit getroffen werden, statt dessen befördert es unsinnige und kontraproduktive Großprojekte, die vor allem der Profilierung Einzelner und den Interessen der ausführenden Industrien dienen. Das Planfeststellungsverfahren vergeudet Steuergeld und gesellschaftliche Ressourcen und verhindert Bürgerbeteiligung, statt sie zu ermöglichen.
Für Infrastrukturprojekte im Sinne des gemeinwohls in Deutschland sollten wenigstens drei Konsequenzen gezogen werden:

  • Das Planfeststellungsverfahren ist zu ersetzten durch eine partizipative Bürgerbeteiligung mit einem Volksentscheid über wenigstens zwei Varianten am Ende des Prozesses. Dabei sind die Varianten sachgerecht und verständlich zu beschreiben. Sie müssen sich auch in wesentlichen Punkten unterscheiden. Ein Vorhaben nicht umzusetzen und z.B. Infrastruktur nur dezentral zu ertüchtigen kann dabei ebenfalls eine Variante darstellen. Für alle Varianten sind Kosten-Nutzen-Rechnungen zu erstellen, die die zentralen gesamtgesellschaftliche Parameter neben der rein betriebswirtschaftlichen Sicht allgemeinverständlich darstellen.
  • Gleichzeitig ist der Geltungsbereich für die Bürgerbeteiligung deutlich auszuweiten: Wo die EU-weite Ausschreibung gefordert ist, müssen auch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden. Schulen, Rathäuser, Gefängnisse: Das alles ist Gemeingut und bedarf gemeinschaftlicher Entscheidungen.
  • Dem Aufbau und Erhalt unserer Infrastruktur muss gesellschaftlich größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Diese Aufgabe darf nicht der Sphäre der Landes- und Bundespolitik sowie der Fachpolitik und der Administration überlassen werden. Sie erfordert enorme Transparenz, und für die Umsetzung dieser Transparenz auch zivilgesellschaftlichen Sachverstand und Volksbildung. Die letzten beiden Punkte müssen mit Geldern ermöglicht werden, die die Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Diese Gelder müssen an die Summe der zu erwartenden Kosten von Infrastukturmaßnahmen gekoppelt werden. Schon ein Prozentsatz von 0,1 % für kostenfreie Weiterbildung wird später ein Vielfaches dieser Summe einsparen helfen, sei es durch vermiedene Baustopps, durch kürzere Verfahren oder durch vermiedene Mehrkosten, die nur im Interesse der privaten Beteiligten gestanden hätten.
    Nur wenn wir uns dumm halten lassen, kann man uns auch für dumm verkaufen.

Berlin, den 18.10.2010, Carl Waßmuth

 

Nachtrag 05.03.2013:

Das Thema scheint auch die Bundesregierung beunruhigt zu haben. Sie hat einen Entwurf zur Verbesserung des Planfeststellungsverfahrens vorgelegt. Dazu gab es eine öffentliche Anhörung am 18.2.2013. Kurz vorher hat die Regierung an dem Entwurf nochmal gebastelt, um ihn dann 10 Tage später, am 28.2.2013, im Plenum zur Abstimmung zu stellen.

„Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenomen.“

Ein Entschließungsantrag der Grünen wurde nicht angenommen.

Mehr echte Rechte auf Bürgerbeteiligung  (und nicht nur behauptete wie in diesem Gesetz) können vermutlich nur durch Bürgerbeteiligung erreicht werden. Ins Parlament sollte man da derzeit nicht allzuviel Hoffnung setzen.